Der Mittelstand im Reich der Mitte geht auf Schussfahrt - skibegeisterte Manager wollen traditionellen Wintersportzentren den Rang ablaufen, berichtet Standard-Korrespondent Johnny Erling von dortigen Pisten. Ein Chinese kann überall sein Gesicht verlieren. Nur nicht beim Skifahren. Das behauptet die 21-jährige Song Wei Da, deren Namen "großartiges Fräulein Song" bedeutet. Im Minibus auf dem Weg von Harbin, der Hauptstadt der nordostchinesischen Provinz Heilongjiang, zur 200 Kilometer entfernten Skiregion Yabuli ("Apfelbaumgarten") kichert sie ins Bordmikrofon: "Wer in den Schnee fällt, tut sich nicht weh. Und verliert auch nicht sein Gesicht. Weil doch alle hinfallen." Chinas neue Mittelklasse hat für sich den Wintersport entdeckt. Im Bus klingeln die Handys, während über Bordvideo Werbefilme über Yabuli oder Kung-Fu-Thriller gezeigt werden. Zwei Angestellte aus einer Pekinger Werbeagentur freuen sich auf den Schnee, ebenso wie ein privater Anwalt. Mit Monatseinkommen zwischen umgerechnet rund 14.000 und 42.000 Schilling (1000 bis 3000 Euro) fallen Kosten um die 10.000 S (727 €) für ein Wochenende zu zweit in Yabuli "nicht ins Gewicht" versichert ein 29-jähriger Bankfilialleiter. Darin enthalten sind Fluganreise, Liftbenutzung und der Verleih von österreichischen Markenskiern und Kleidung. Sanfte Hänge Ihr Ziel liegt am Fuß sanft ansteigender, bis zu 1374 Meter hoher und im Sommer bewaldeter Berge. Jahrzehntelang trainierten hier Chinas nationale Skisportler auf damals kaum begradigten Pisten. Der Aufschwung kam, als Yabuli für Februar 1996 als Austragungsort der Dritten Asien- Winterspiele erwählt wurde. Der Staat zahlte umgerechnet fast 3,5 Milliarden Schilling (255,6 Millionen Euro), um die Infrastruktur samt eisfreier Schnellstraße nach Harbin aufzumöbeln. Nach dem Ende der Asienspiele - China gewann keine einzige Skimedaille - "brach für uns das Zeitalter des Skitourismus an", berichtet stolz Ressortmanager Cao Yue, der sich auch Patrick nennt. Genau fünf Jahre später hört man die Folgen schon von weitem. In offenen Skistiefeln ("damit wir, wenn nötig, besser rausspringen können") rasen Manager den 60 Meter flach abfallenden Idiotenhügel in der einzigen Haltung hinunter, die sie sofort beherrschen: Schussfahrt. Sie brüllen sich mit "Zhuyiiiiiii" (Achtung!) die Bahn frei und kippen unten um, sobald sie im verharschten Schnee zum Stehen kommen. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, sagt Ressortmanager Patrick, bis die in Japan und Südkorea populären Skiurlaubsorte auch in China entstehen würden. "Wir können so etwas auch." Im Skidorf Yabuli kann man sich vom Resultat überzeugen. Der erste Direktor ließ haushohe Windmühlen als Luxusherbergen erbauen und stellte viele Hunderte kleine Windmühlen als Dekoration auf die Berghänge - weil sie für europäische Romantik und Naturverbundenheit stünden. Ihr unermüdliches Drehen symbolisiere zudem sehr gut das chinesische Scheffeln nach Wohlstand. Der nächste Direktor ließ finnische und schwedische Holzhäuser dazubauen. Ein Dritter stellte aus unerfindlichen Gründen indianische und afrikanische Totems auf. Skilifte bei der Mauer Inzwischen hat die Verwaltung Schweizer Wintersportexperten gebeten, das kunterbunte Allerlei zu ordnen. Mit Hotels und Geschäften und um ein Drittel mehr Über- nachtungsplätzen (3000 Betten) soll Yabuli erweitert werden. "Wir hoffen, uns nach 2010 um die Austragung der Olympischen Winterspiele bewerben zu können", sagt Patrick. An der neu erwachten Skibegeisterung will jeder mitverdienen. Wo immer es in China kalt ist und ein bisschen Schnee fällt, stecken neue Skizentren ihre Claims ab. Selbst bei der Großen Mauer in Peking hat jetzt für Millioneninvestitionen ein Skizentrum mit Schneekanonen und Lift eröffnet. "Wir waren die Ersten und bleiben die Besten", verteidigt Patrick "sein" Yabuli mit den insgesamt 40 Pistenkilometern. Er hat hinter sich einen der großen Investoren Chinas, Tian Yuan, den Präsidenten der Warentermingesellschaft "China Futures", der sich als Pate von Yabuli versteht. Er hat umgerechnet mehr als 700 Schilling (knapp 51 Mio. €) in Hotels und Infrastruktur investieren lassen. Sein jüngster Plan: "Ich will Yabuli zum Davos Chinas machen." (Der Standard-Printausgabe, 22.2.2001, Johnny Erling)