Welt
Schlimmer als in Sibirien
Viktor Adlers Untersuchung über "Die Lage der Ziegelarbeiter"
Am 12. November 1895 stand der Herausgeber der Arbeiter-Zeitung, Dr. Victor Adler, vor einem Wiener Schwurgericht. Er hatte
sich wegen der Berichterstattung über einen Streik der Ziegelarbeiter zu verantworten, an dem sich im April dieses Jahres mehr als
6000 Männer, Frauen und Kinder an insgesamt 41 Produktionsstätten der Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft beteiligt
hatten und in dessen Verlauf es zu wüsten Auseinandersetzungen mit dem Militär und der Gendarmerie gekommen war.
Der Staatsanwalt sah in einigen Artikeln den Tatbestand des Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe erfüllt. In seiner
Verteidigungsrede rekapitulierte Adler, wie er auf die katastrophale soziale Lage und das Elend der Ziegelarbeiter aufmerksam
geworden war und warum er, als Armenarzt und Psychiater, die Sache gerade dieser Arbeiterschaft zu seinem ureigenen Anliegen
gemacht hatte. Vor genau sieben Jahren sei ein in Fetzen gehüllter junger Ziegelschlager zu ihm gekommen und habe im Detail
dargestellt, "was wir bis dahin nur geahnt haben". Er habe schlicht und einfach nicht glauben können, dass unmittelbar vor den
Toren Wiens, eine Wegstunde vom Zentrum entfernt Hunderte, ja Tausende nackt auf den Ringöfen schlafen, dass an die
fünftausend Arbeiterinnen und Arbeiter einer hochprofitablen Aktiengesellschaft in Wohnungen hausen, "die schlimmer sind als
alles, was in der Beziehung möglich gedacht werden kann".
Mithilfe zweier befreundeter Ziegelarbeiter, Johann Raab und Ludwig Hader, habe er sich schließlich nachts in das Werk
eingeschlichen: "Wir haben Fürchterliches gesehen."
Adler veröffentlicht im Dezember 1888 die Ergebnisse seiner verdeckten Recherchen in der von ihm gegründeten Wochenschrift
Gleichheit. Die Artikelserie schlägt ein wie eine Bombe. Sie eröffnet einen direkten Blick in einen für undenkbar gehaltenen
sozialen Abgrund, erschließt eine soziale Gegenwelt: die elende, dreckige Kehrseite des Ringstraßenglanzes, das verdrängte,
vergessene andere einer gefeierten Fin-de-Siècle-Metropole, eine Welt der Ausbeutung, Entfremdung, Abstumpfung und Apathie.
Adler spricht von den "ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint". Eingebunden in ein über komplexe Hierarchien vermitteltes
System absoluter Abhängigkeiten, waren sie der Gesellschaft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; Trucksystem und
Blechwirtschaft bestimmten ihr Dasein. Die ohnedies skandalös niedrigen Löhne wurden nicht in "Normalgeld", sondern in Form
von Blechkupons, die wiederum ausschließlich von den Kantinenwirten des Werkes als Zahlungsmittel akzeptiert wurden,
ausbezahlt. Die Qualität der angebotenen Waren war mangelhaft, die Preise deutlich überhöht, jede(r) Arbeiter/in einem
bestimmten Wirt als Bewucherungsobjekt zugeteilt. Adler: "Im Gefühl seiner Macht sagte ein Wirt einem Arbeiter, der sich
beklagte: ,Und wenn ich in die Schüssel sch..., müßt ihr's auch fressen.' Und der Mann hat recht, sie müssen!"
Konnten und durften die Arbeiter nicht außerhalb des Werksgeländes einkaufen, so war es ihnen doch erlaubt zu betteln. Adler
beschreibt, wie die Inzersdorfer Konservenfabrik allabendlich von Menschenhorden umlagert wurde, die Abfallprodukte ergattern
wollten. Wem immer es möglich war, der scheute auch den anderthalbstündigen Fußmarsch nach Neudorf nicht, wo Herr von
Seyfried, der Henker von Wien, täglich 80 Portionen Suppe mit Gemüse verteilen ließ: "Beim Henker ist mehr Mitleid als bei der
Aktiengesellschaft und den von ihr besoldeten Antreibern." Jedes Arbeitsverhältnis implizierte auch das zwangsweise Wohnen am
Werksgelände. In jedem einzelnen Raum der für die Schlager eingerichteten Arbeiterhäuser lebten drei, vier ja bis zu zehn
Familien, "Männer, Weiber, Kinder alle durcheinander, untereinander, übereinander." Für andere wiederum waren so genannte
Schlafsäle eingerichtet, wo in einem einzigen Raum 50 bis 70 Personen, auf Holzpritschen und altem Stroh, Körper an Körper
geschlichtet, zu liegen hatten. In einem dieser Säle hatte, so Adler, erst vor kurzem eine Frau in der Gegenwart von "50
halbnackten, schmutzigen Männern" entbunden: "Sprechen wir nicht von Schamhaftigkeit, sie ist ein Luxus, den sich nur die
Besitzenden leisten können. Das Leben der Mutter ist durch eine Geburt unter solchen Umständen bedroht. Aber was liegt an
einem armen Weibe."
Eine besondere Spezialität zeichnete schließlich die Werke am Laaerberg aus. Hier schliefen ganze Männerpartien, großteils
Ledige, in und auf den Ringöfen, einerseits der kalten Nachtluft ausgesetzt, andererseits von unten halb gebraten, den Kopf auf
einen Kohlehaufen gebettet, von einem schmutzigen Rock notdürftig bedeckt. Die Sträflinge in Sibirien, so Adler
zusammenfassend, seien besser versorgt als diese Menschen, deren Verbrechen es offensichtlich war, die Dividenden der
Aktionäre der Gesellschaft zu erarbeiten.
Adlers Enthüllungen führen unmittelbar zu einer Interpellation der Reichsratsabgeordneten Pernerstorfer und Kronawetter an den
Ministerpräsidenten. Die Interpellation blieb unbeantwortet, jedoch entfaltete die Behörde in anderer Hinsicht ungewöhnlich rasch
Aktivitäten. Die Gleichheit wurde konfisziert, die beiden Verbindungsleute Adlers verhaftet und abgeschoben, Adler selbst kam mit
einer Geldstrafe wegen unbefugten Verbreitens einer Druckschrift davon. Er ließ dieser Sozialreportage weitere, nicht minder
spektakuläre folgen, deren bedeutendste jene über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Kutscher der Wiener
Tramwaygesellschaft im April 1889 war. Sie führte zum behördlichen Verbot der Gleichheit und zu einer Verurteilung Adlers zu vier
Monaten schweren Kerkers.
Adler war Politiker, praktischer Soziologe und ein Meister der angewandten Massenpsychologie; seine Sozialreportagen, immer
Anklage und Analyse zugleich, sind geradezu ein Schlüssel zu seiner hochkomplexen Persönlichkeit. Er war, wie später auch
Sigmund Freud, Assistent bei dem Wiener Gehirnanatomen Meynert gewesen und hatte beim berühmten Pariser Psychologen und
Hypnotiseur Charcot studiert. Der junge Deutschnationale aus großbürgerlich-jüdischem Haus beginnt sich der jungen, tief
gespaltenen und völlig bedeutungslosen Sozialdemokratie zuzuwenden, als sich in der großdeutschen Bewegung der
Rassenantisemitismus eines Georg Schönerer durchsetzt. Als 1884 seine Bewerbung für das Amt eines Gewerbeinspektors
abgelehnt wird, widmet sich der Armenarzt verstärkt der Politik, gründet aus den Mitteln seines Privatvermögens die Gleichheit (für
die er u.a. Karl Kautsky und Hermann Bahr zur Mitarbeit gewinnt) und wird zur überragenden Führungsfigur der österreichischen
Arbeiterbewegung.
Er war somit von der Medizin über die Gewerbeinspektion zur sozialen Prophylaxe gekommen. In diesem Sinn ist der politische
Empiriker stets ein politischer Arzt geblieben, der den individuellen Körper, dem die Medizin ihre Aufmerksamkeit widmete, zum
sozialen Körper erweiterte. Die medizinische Ausbildung lieferte ihm das methodische und begriffliche Instrumentarium für die
Abfassung seiner Arbeiten zur Gewerbehygiene oder zur Alkoholfrage, nicht zuletzt aber auch für seine berühmten und
aufsehenerregenden Sozialreportagen. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 24./25. 2. 2001)