Wien - Die Frage nach der vielfältigen Identität der abwesenden Dame Anne, die auch kindlich Annie gerufen wird, liebevoll Anny oder Anuschka, ist die fruchtlose Frage nach König Midas' Eselsohren. Der britische Dramatiker Martin Crimp hebt mitten im dicksten Quatsch des Mediensperrbezirks ein Dramenloch aus; wispert den Namen seiner mysteriösen Hauptfigur hinunter und gräbt es, nicht ohne ein paar Andeutungen aufreizend ausreichend zu hinterlassen, anschließend wieder zu. In dem Stück Angriffe auf Anne drehen sich die Stimmen als Geisterkarussell um die schöne Anne. Ist sie wahlweise ein bosnisches Kriegsopfer, eine bettnässende Terroristin, eine selbstmörderische Fremdenführerin, eine wirre Fremdgängerin, ein Zwei-Liter-Pkw mit Airbags, eine Aussteigerin, ein Porno-Starlet? Müssen wir sie wahlweise halten für ein Luder, eine Larve, ein Simulacrum? Das Wiener Volkstheater, das für diesen Haupttext der zeitgenössischen angelsächsischen Dramenkunst immerhin sein marmornes Rangbuffet aufgesperrt hält, überlässt das Rätsel Anne der jungen Regisseurin Stephanie Mohr zur Entzifferungsübung. Entzifferungsübungen am Konfetti-Text Aber es geht hier gar nicht um Sein oder Nichtsein. Es geht bloß um das Nicht-da-Sein: Auf dieser dramaturgischen Vollglatze könnte das Theater seine tollsten Locken in immer engeren, erregenderen Wickelbewegungen drehen. Im Rangfoyer, wo lauter gestochen scharfe Polaroids den Marmorboden bedecken, erzählen einander sechs "Leute von der Straße", was sie von den höhnisch knisternden Dialogblättern des Martin Crimp im Vorübergehen abgelesen haben. Sie streuen den Text, der aus lauter hingestrichelten Randbemerkungen besteht, wie Konfetti freiwillig beidhändig aus. Anne ist wahlweise: Phantasmagorie, Klischee und lebendiges Kompendium. Im Volkstheater setzt man sich in hysterisch zwangserheiterten Sitzgruppen zusammen: zur Teestunde in der Kitsch-Gartenlaube. Man stellt sich zur Vernissagegesellschaft kreisförmig zusammen wie zum Botho-Strauß-Vergessenskuss. Die in den Rätseltext eingewobenen Songs werden von einem sehr exaltierten Kahlkopf am E-Bass (Raphael von Bargen) mit dem Donnerdaumen begleitet. Eine Textfläche spricht Erwin Ebenbauer in dampfendem Royal-Court-Englisch, als wäre Bolingbroke gerade hinter Dover gelandet und müsste jetzt seine reisigen Knappen zusammensuchen. Die Entzifferungsübungsleiterin blickt mit gerunzelter Stirn auf Crimps Palimpsest. Sie liest immer nur "Stadttheater! Stadttheater!" vom Papier herunter. Dann zerfällt der schöne Text in hundert kleine Schnitzel. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 2. 2001)