Wien - Mit Erziehungskomplex hat Rainer Ganahl 1997 in der Generali Foundation eine Liste all jener Denker aufgelegt, die man als Mitglied des fortschrittlichen Kunstbetriebes einfach gelesen haben muss: von Edward Saids Kolonialismusstudien bis zu Susan Sontag und gar noch Jürgen Habermas. Er hat sie alle gelesen. Mehr noch, er hat ihre Vorlesungen gefilmt. Zur Biennale in Venedig empfahl er sich 1999 als Fremdsprachenlehrer. Im Juli 2000 hielt er im Salzburger Kunstverein eines seiner Leseseminare ab: Unbehagen in Österreich.

Ganahl ist immer auf der Höhe der Zeit, am Puls der Betriebsdebatte. Jetzt auch wieder. In der Galerie Nächst St. Stephan empfiehlt er sich gerade der Documenta 11. Als Parade-Spartenübergreifer zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik. Wo Soziologen, Politik- wie Kulturwissenschafter und andere Kunsttheoretiker sich in offenen Plattformen ausführlichst besprechen, da sollte auch er mitreden dürfen. Migration wird eines der großen Themen sein, Kolonialisation ein anderes, die Massenvernichtungen der Vergangenheit und die avancierten Techniken, ähnliche Effekte heute über den geschickten Einsatz von Kapital zu erzielen.

Und damit er gegenüber der schnell voraneilenden Zeit nicht zurückbleibt, hat er noch rechtzeitig ein Projekt realisiert. Der Zufall, schreibt er, hätte ihn 1999 mit einer deutschsprachigen Emigrantin zusammengeführt. Und, betroffen vom eigenen Unwissen über die Schicksale der Nachkriegsgeneration hätte er sich zu interessieren begonnen. Ganahl nutzt hier den Begriff "Mythos" in der beliebt fahrlässigen Anwendung auf alles irrational Faszinierende, um sein vorgeblich naives Interesse an der "verdrängten Nachkriegsgeneration" zu umschreiben.

Rasch waren neun Originalemigranten gefunden und bereit, vor Ganahls Kamera "freie" Gespräche zu führen, ja selbst "die Wahl der Sprache ist frei - lehnen doch einige Leute es ab, Deutsch zu sprechen". Damit sie sonst nicht auch noch irgendetwas ablehnen, hat Ganahl erst gar nicht zielgerichtet nachgefragt: eher rhetorisch, um den Gesprächen Länge zu geben. Oder auch ungeschminkt unvorbereitet: Der Verleger Fritz Molden, von dem die Autorin Stella K. Hershan als für sie wesentliche Verbindung zum Nachkriegsösterreich berichtete, war ihm offensichtlich neu.

Und so dokumentieren die ungeschnittenen Interviews nur vordergründig die Schicksale der Gesprächspartner. Es dominiert die Absicht, Ganahls Interesse zu belegen, ihn als engagierten Künstler zu qualifizieren. Denn auf Inszenierung wird größten Wert gelegt: Den Videos beigestellt sind voyeuristische, fotografische Spurensuchen in den Wohnungen und Gesichtern der Gesprächspartner. Findet sich nicht doch irgendwo ein Andenken, ein Souvenir, ein Stückchen Sehnsucht nach der alten Heimat?

Und: Es stellen sich jedem Linguisten sämtliche Körperhaare auf, wenn da einer antritt, aus einem Sample von neun Personen "die Sprache der Emigration" abzuleiten und dabei nicht mehr feststellt als die Tatsache, dass manchen die neue Sprache fremd geblieben ist, andere das Englische vollständig übernommen haben und dazwischen alle erdenklichen Mischformen liegen.

Wozu das Ganze? Um in der Galerie "die Sprach- und Lebenswelten ehemaliger Emigranten einem interessierten Publikum näher zu bringen, das üblicherweise nicht die Wege in die Bibliotheken und die historischen Archive sucht". Dort jedenfalls würde niemand ein Emigrantenschicksal in der Auflage von drei Stück um öS 105.000 käuflich erwerben - für den intimen Gebrauch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. (Markus Mittringer - DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28. 2. 2001)