Eriwan - Der erste Eindruck, der sich später bestätigen wird, ist die Landung auf dem Flughafen Eriwan: Auf der mit Schlaglöchern übersäten Piste scheint es das - auch nicht gerade neue - Flugzeug der rumänischen Romavia zu zerreißen, aus der Decke springen die Sauerstoffmasken. Der Zustand der Infrastruktur ist nicht nur am Flughafen erbärmlich, noch in viel schlechterem Zustand sind die kommunistischen Plattenbauten, auf deren abbröckelnden Balkonen sich die Bewohner der armenischen Hauptstadt trotzdem wagen, um die Autokolonne der Gäste von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vorbeifahren zu sehen. Die Armut ist auch auf dem größten Markt Eriwans evident, an nur der Hälfte der Stände, deren Miete einen Dollar pro Tag kostet, ist die bescheidene Ware ausgelegt. Im Sommer geht es besser, wird uns gesagt, da gibt es heimisches Gemüse und Obst. Was es zuhauf gibt in Eriwan, sind Denkmäler, da scheint sich der sowjetische mit dem armenischen Geschmack zu treffen. Der Monumentalstil macht die Menschen noch kleiner und gebeugter. Eine BBC-Kollegin, die für eine Dokumentation "Zehn Jahre danach in den Exsojwetrepubliken" die Eriwaner befragt, stößt auf viel Nostalgie: "In der Sowjetunion ist es uns besser gegangen." Ohne die Zuwendungen der Diaspora-Armenier würden viele verzweifeln, wer kann, verlässt das Land. Außer dem Dauerbrenner Berg-Karabach - der armenischen Exklave in Aserbaidschan, über deren Zukunft momentan in Paris verhandelt wird - beherrscht derzeit ein Thema die armenische Hauptstadt: der Prozess gegen die dreizehn Männer, die am 27. Oktober 1999 das Parlament stürmten und den damaligen Premier Vasgen Sarkisjan, Parlamentspräsident Karen Demirtschjan und sechs weitere Politiker erschossen und vierzig Parlamentarier und Regierungsmitglieder als Geiseln nahmen. Vor dem Gerichtsgebäude sammeln sich an jedem Prozesstag Dutzende Menschen, viele davon sind Angehörige der Opfer, die Stimmung ist aufgeladen. Unter fadenscheinigen Gründen wurden der Presse Beschränkungen in der Berichterstattung über das Verfahren auferlegt, auch das Parlament hat sich deswegen eingeschaltet. Was die Menschen so aufregt, ist der sich aufschaukelnde Verdacht, Präsident Robert Kotscharian habe etwas mit dem Attentat zu tun. Der hauptangeklagte armenische Nationalist Nairi Hunanian, der als Tatmotiv angibt, dass er Armenien von den Hauptverantwortlichen für das wirtschaftliche Desaster befreien wollte, hatte in ersten Verhören die Verwicklung eines Beraters Kotscharians angegeben. Später sagte der Exjournalist, er sei zu dieser Aussage gezwungen worden. Vox Populi Dass sich Kotscharian zurzeit des Attentats mit Premier Sarkisjan in einem Machtkampf befand, ist offenes Geheimnis. Kotscharian habe seinen Rivalen ausschalten wollen, so die Vox Populi - der sich auch der Bruder Sarkisjans, Aram Sarkisjan, der dem Ermordeten als Premier nachfolgte (bis Mai 2000), angeschlossen hat. Eine eigenartige Konstellation in einem Land, dessen Schicksal - Krieg oder Frieden - derselbe Präsident Kotscharian soeben in Paris mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Heydar Aliyew verhandelt. Bis in den Gerichtssaal reicht die Spaltung: Der Vizestaatsanwalt wirft dem Staatsanwalt vor, gegen Kotscharian zu agieren. Die Leute vor dem Gerichtsgebäude sehen das anders und demonstrieren dagegen, dass ein Gespräch, das Kotscharian mit den Verbrechern noch während der Geiselnahme führte, nicht als Beweismitteln zugelassen. Fast völlig erstummt sind hingegen die Gerüchte, dass das Verbrechen einen politischen Hintergrund hatte, der über Armenien hinausreichte; heute ist man sich ziemlich einig, dass der Schlüssel allein in armenischen Machtspielen verborgen ist. Damals hatte es geheißen, die Russen hätten Interesse an der Liquidation Sarkisjans gehabt, weil dieser zu Kompromissen in Berg-Karabach bereit gewesen wäre und Druck auf Regierung und Parlament machte. Andere behaupten das Gegenteil: Durch eine Destabilisierung Armeniens sollte Russland geschwächt werden. Aber wie gesagt, das ist eher Schnee von gestern, der Sumpf in Armenien ist nach Ansicht vieler tief genug, um solche Ereignisse wie das vom Oktober 1999 hervorzubringen. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.3.2001)