Was hat sich seit Gomulka am meisten verändert? - Gomulka!" Dieses Scherzwort aus dem Polen der Sechzigerjahre kennzeichnet die wachsende Enttäuschung über die Politik des 1956 enthusiastisch gefeierten, nach langjährigem Kerker an die Parteispitze zurückgekehrten Ersten Sekretärs der polnischen KP. Die Gründe dafür lagen sowohl an den Umständen als auch an seiner Person selbst. Auf Ausgleich bedacht, beließ Gomulka den ewigen Überdauerer Cyrankiewicz in seiner Funktion als Regierungschef; mit fast einem Vierteljahrhundert - bis 1970 - in diesem Amt, hat er wohl einen europäischen Rekord aufgestellt. Die mit der Befreiung des Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszynski, aus der Haft eingeleitete Annäherung an die Kirche wich bald neuen Konflikten. Bald verstärkte sich auch der Druck auf die Künstler. Es kam zum Verbot allzu liberaler Zeitschriften und zum Parteiausschluss kritischer Intellektueller, so des Philosophen Leszek Kolakowski. Im Zweifrontenkrieg gegen Moskowiter und Liberale zunächst vom Innenminister Mieczyslaw Moczar unterstützt, schuf sich Gomulka einen gefährlichen Konkurrenten, der mit chauvinistischen und antisemitischen Parolen eine wachsende Klientel fand und einen ihm willfährigen Sicherheitsapparat aufbaute. Gomulka nahm in der Überzeugung, dass Polen nur durch unverbrüchliche Treue zum Bündnis mit der Sowjetunion vor dem "westdeutschen Revanchismus" zu schützen sei, die Einbindung Polens in das Comecon hin. Die Beteiligung am Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen zur Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 war der für die Polen wohl peinlichste von Moskau abgeforderte Treuebeweis. In Bezug auf die Planwirtschaft und die Bevorzugung der Schwerindustrie blieb Gomulka dogmatisch. Das führte zu zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ja sogar zu Knappheiten in der Lebensmittelversorgung. Als der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt im Dezember 1970 in Warschau den Vertrag zur gegenseitigen Anerkennung der territorialen Integrität der beiden Länder unterzeichnete, schwanden bei vielen Polen die Ängste vor den Deutschen. Die unmittelbar danach erfolgte Anhebung der Preise für Grundnahrungsmittel brachte die Unzufriedenheit der Arbeiter zum Überlaufen: Ein Streik in den Werften von Gdansk/Danzig führte tagelang zu aufstandsähnlichen blutigen Unruhen. An ihrem Ende stand der Sturz Gomulkas. An den neuen Parteichef Edward Gierek, der als Pragmatiker galt, knüpften sich Erwartungen für eine wirtschaftliche Sanierung. Anfänglich schienen sich diese zu bestätigen. Die internationale Ölkrise brachte einen jähen Einbruch. Mit der wachsenden Unzufriedenheit der Menschen kehrte das Regime auch zu alten Repressionsmaßnahmen zurück. Kleinliche administrative Maßnahmen richteten sich zunächst vor allem gegen die Kirche, dann wurden auch Lockerungen zurückgenommen, die den Schriftstellern und Historikern mehr Freiheit gesichert hatten. Auch die Zusammensetzung des Sejm behielt den für die KP festgelegten Vorrang (vor den Satellitenparteien) bei. Drastische Preiserhöhungen auf Grundnahrungsmittel führten im Sommer 1975 zu Streiks in zahlreichen Betrieben. Sondergerichte verurteilten die Rädelsführer zu langjährigen Kerkerstrafen. Gegen das brutale Vorgehen der Polizei bildete sich ein "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR); dessen Proponenten - Künstler und Intellektuelle - wurden zwar festgenommen, doch zahlreiche verurteilte Arbeiter wurden amnestiert. Am 16. Oktober 1978 wurde der Krakauer Kardinal Karol Wojtyla zum Papst gewählt. Das erfüllte fast alle Polen mit Stolz, und die Nation scharte sich noch stärker um die Kirche. Die triste Wirtschaftslage führte 1979/80 zu betrieblichen Streikkomitees; im Sommer 1980 folgten, ausgehend von der Danziger Lenin-Werft, Massenstreiks in den Küstenstädten und in Oberschlesien. Der Werftarbeiter Lech Walesa wurde an die Spitze eines überbetrieblichen Streikkomitees gewählt. Daraus entstand die Gewerkschaft "Solidarnosc" (Solidarität), die neben Lohnerhöhungen das Streikrecht und die Aufhebung der Zensur verlangte. Binnen einem Jahr trat ihr eine Million Arbeiter bei. Die "Bruderländer" begannen, die Entwicklung mit Sorge zu betrachten. 1980 musste Gierek abtreten. Die aus Moskau, Prag und Ostberlin einsetzende Kritik an der Führungsschwäche der polnischen Partei, der Vorwurf, dass die Solidarnosc eine "Doppelherrschaft" errichten wolle und der Anarchie Vorschub leiste, führte dazu, das im Februar 1981 der Oberkommandierende der Armee, Wojciech Jaruzelski, Ministerpräsident und im Oktober auch Parteichef wurde. Als Solidarnosc drohte, jede Einschränkung der seit 1980 erkämpften Arbeiterrechte mit einem Generalstreik zu beantworten - und an Polens Grenzen bereits Truppen zwecks "brüderlicher Hilfe" für das Regime bereitstanden - verhängte Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über das Land. Er wollte damit offenbar zeigen, dass Polen allein mit dem Aufruhr fertig werden könne. Die Solidarnosc und der Unabhängige Studentenverband wurden verboten, Tausende Personen in Haft genommen, da und dort versuchte Streiks blutig niedergeschlagen. Auf einer Besuchstour durch die Hauptstädte der "Bruderländer" suchte Jaruzelski die Bundesgenossen zu beruhigen. Mahnungen des Episkopats, des Papstes und des Westens sowie die scheinbare "Normalisierung" der Lage führten Ende 1982 dazu, dass Walesa aus seiner Verbannung in ein ostpolnisches Dorf nach Danzig zurückkehren durfte und das Kriegsrecht ausgesetzt wurde. Die traurige Versorgungslage bei galoppierender Inflation - Zucker, Fleisch und Fett gab es nur noch rationiert - führte zu neuen Unruhen. Walesa, zum Ärger der Regierung 1983 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, forderte 1987 Reformen, wie Gorbatschow in Russland sie anpeilte. Ein Streik, der von den Verkehrsbetrieben in Bydgoszcz/Bromberg seinen Ausgang nahm, erfasste das ganze Land. Jaruzelski, inzwischen Staatspräsident geworden, tauschte den Regierungschef aus und forderte Reformen "ohne halbe Maßnahmen". Die Solidarnosc wurde wieder offiziell zugelassen, es begannen sich Parteien außerhalb der durch Jahrzehnte drei zugelassenen zu bilden, dieser Opposition wurden 35 Prozent der Parlamentssitze zugesprochen. Die Wahl im Juni 1989 endete mit einem Fiasko für die KP und ihre Satellitenparteien. Jaruzelski legte den KP-Vorsitz zurück, um "Präsident aller Polen" zu sein. Er berief mit Tadeusz Mazowiecki den ersten Nichtkommunisten seit 1945 zum Regierungschef. Am 29. Dezember 1989 beschloss der Sejm, die "Volksrepublik" abzuschaffen; die Dritte Polnische Republik (Rzeczpospolita Polska) konstituierte sich als parlamentarische Demokratie. Ein Jahr später wurde Lech Walesa zum neuen Staatspräsidenten gewählt. 1995 unterlag er bei neuerlichen Wahlen dem Exkommunisten Aleksander Kwasniewski. Im Oktober 1991 fanden die ersten freien Parlamentswahlen seit 1928 statt. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft brachte die Vertreter von 29 Gruppierungen in den Sejm. Die unter diesen Umständen zustande gekommene Mitte-rechts-Regierung, die mehrmals die Kabinettschefs wechselte, zerbrach, es folgten vorzeitige Neuwahlen (1993); die zuvor eingeführte Fünfprozentklausel hatte zur Folge, dass 35 Prozent der Wählerstimmen nicht im Parlament vertreten waren. Als stärkste Parteien bildeten die postkommunistische SLD und die Bauernpartei PSL eine Koalitionsregierung. Regierungskrisen verstärkten die wachsende Politikverdrossenheit des Volkes. Bei den Wahlen 1997 kam der Gegenschlag: Die der Kirche nahe stehende "Wahlaktion Solidarnosc" als Siegerin bildete nun die Regierung. Ungeachtet der heftigen innenpolitischen Kontroversen steuerten alle Regierungen außenpolitisch das Ziel "Rückkehr nach Europa" und den Beitritt zur Nato an. In diese wurde Polen 1999 aufgenommen, die Verhandlungen über einen Beitritt Polens zur EU wurden 1998 eröffnet. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 10./11. 3. 2001)