Bayanjargalan - Weitab von den Augen der Weltöffentlichkeit spielt sich in der mongolischen Steppe ein stilles Drama ab. Aasgeier und
Krähen zerreißen die erstarrten Körper erfrorener Schafe. Hungrige Hunde belauern ermattete Viehherden. Mit den Rindern und Pferden
stirbt in einem der härtesten Winter seit 50 Jahren auch die Lebensweise und Kultur der Nomaden - das sind ein Drittel der 2,4 Millionen
Menschen in der Mongolei.
"Ich habe noch nie solch einen kalten und strengen Winter erlebt", sagt die 64-jährige Dolgorsuren. "Seit ich neun Jahre alt bin, hüte ich die
Schafe. Es gab immer kalte Winter, aber keiner war so hart wie dieser. Wir wissen nicht, wie wir überleben sollen."
Bisher sind in der Mongolei nach Angaben der Vereinten 1,3 Millionen Stück Vieh erfroren. Verzweifelt über den Verlust ihrer
Lebensgrundlage hätten sich viele Hirten schon das Leben genommen, sagt die höchstrangige Vertreterin der Vereinten Nationen in der
Mongolei, Saraswathi Menon. "Wir erleben hier den Verlust einer ganzen Lebensweise und Kultur, die schon seit Jahrhunderten besteht."
Traditionen
Seit den Tagen des mongolischen Herrschers Dschingis Khan vor 800 Jahren hat sich hier kaum etwas geändert. Fleisch, Milch, Wolle und
Haut der Tiere versorgen die Nomaden mit Nahrung, Kleidung und Handelsgütern. Der getrocknete Dung dient als Brennstoff zum Kochen
und für die Heizung der "Gers", der runden Zeltbehausungen in der Steppe. Wenn einem Nomaden die Herde stirbt, ist das so, als ob ein
Europäer Auto, Bankkonto, Kühlschrank und Heizung verliert.
Bis Mai könnten nach Befürchtungen der Vereinten Nationen 6,6 Millionen Tiere zu Grunde gehen - das wären 21 Prozent des gesamten
Viehbestands der Mongolei. Noch herrscht keine akute Hungersnot in der Bevölkerung des asiatischen Landes. Aber nach einem
UN-Bericht muss mit einer erhöhten Sterblichkeit von Kindern, Frauen und alten Menschen gerechnet werden. Zudem bringt die Nomaden
der Kampf ums Überleben ihrer Herden und die Not, den Tieren beim Sterben zusehen zu müssen, an den Rand der psychischen
Erschöpfung. Die Vereinten Nationen appellieren an die internationale Gemeinschaft, für Futter und Heu 11,7 Millionen Dollar (12,50 Mill.
Euro/172 Mill. S) bereitzustellen.
Die Familie von Dolgorsuren war schon immer eher arm gewesen - nach mongolischen Maßstäben sind das alle Familien, die weniger als 20
Tiere pro Kopf haben. Jetzt aber kämpfen ihre sieben Mitglieder ums nackte Überleben. Hinter ihrem Ger liegen gefrorene Ziegenkadaver.
Davor nagt ein Hund am Leichnam einer Kuh. Nur 60 Tiere ihrer einst 149 Schafe, Ziegen, Kühe und Pferde sind übrig geblieben. Die
Familie hat kein Geld, um Futter oder Kohle zu kaufen. Deswegen suchen die Kinder die umliegenden Hügel jeden Tag stundenlang nach
Zweigen ab.
Unterernährung
Im vergangenen Winter verlor die Familie einen Ger im Sturm, seitdem schlafen alle in einem Zelt. Zum Mittagessen gibt es Pasteten aus Mehl
und Wasser mit ein paar Stücken gekochten Rinder- und Pferdefleischs. Eines der Kinder, Togtokh, sagt, er sei 16 Jahre alt, sieht aber nicht
älter als zwölf aus. Dabei hat die Familie von Dolgursen noch Glück. Ihr Ger ist nahe genug am Dorf Bayanjargalan, etwa 160 Kilometer
südöstlich der Hauptstadt Ulan Bator, so dass sie eine Hilfslieferung bekommen haben: zwei Ballen Heu sowie Reis und Mehl.
Andere Nomadenfamilien sind hingegen völlig in der Schnee-Ödnis eingeschlossen. In Sergelen, einem Dorf 60 Kilometer südlich von Ulan
Bator, sorgt sich der Verwaltungsbeamte Tomor, dass er einige Familien seit zwei Wochen nicht mehr erreicht hat. "Wir wissen nicht, wie sie
überleben", sagt er.
Während der kommunistischen Regierungszeit wurden 2.000 bis 3.000 Tonnen Heu für den Winter bereit gestellt. Doch seit der
Privatisierung der Viehwirtschaft im Jahr 1991 sind die ehedem gemeinschaftlichen Traktoren und Mähdrescher nicht mehr gepflegt worden.
So wurden im Sommer nach Angaben Tomors im ganzen Bezirk nur 50 Tonnen Heu gesammelt. Landesweit standen nur 59 Prozent des
Winterbedarfs an Heu und 21 Prozent der nötigen Futtermittel zur Verfügung. Wegen fehlender Heizungsmöglichkeit musste auch die Schule
des Bezirks geschlossen werden.
"Nur die Hunde und Krähen werden fett."
Verschärft wurden die Probleme der Nomaden durch Überweidung. In den vergangenen sechs Jahren wurden die Herden um mehr als 25
Prozent vergrößert, von 26 Millionen Tieren im Jahr 1992 auf 33 Millionen nach den Zahlen von 1998. Gleichzeitig aber wurden Brunnen und
andere wichtige Einrichtungen der Infrastruktur vernachlässigt, weil die alte Kollektivwirtschaft zusammengebrochen ist.
"Ich verliere die Hoffnung auf ein gutes Leben", sagt der 40-jährige Hirte Batmonkh, dem jeden Tag zwei bis drei Tiere wegsterben. Er habe
kein Geld, um seine fünf Kinder einzukleiden oder Medikamente für sie zu kaufen. Noch 20 Kühe sind übrig. Aber "es ist noch eine lange Zeit
bis zum Sommer", sorgt sich der Hirte. "Nur die Hunde und Krähen werden fett."
(APA)