Bevor sie zu den Delegierten des grünen Parteitages sprach, machte Claudia Roth eine Durchsage in eigener Sache: "Meiner Mama darf ich winken." Gesagt, getan. Dazu lachte sie strahlend in die Kameras. Die neue Parteichefin der Grünen ist emotional und hat keine Scheu, Gefühle öffentlich zu zeigen. So war sie nach der Hinrichtung zweier Deutschstämmiger in den USA vor laufenden TV-Kameras in Tränen ausgebrochen. Die Betroffenheit nimmt man der Menschenrechtsexpertin, die jeden in ihrer Umgebung gerne umarmt, ab. All jenen, die ihr Betulichkeit vorwerfen und sie als "Heulsuse" bezeichnen, hält die Allgäuerin mit den blondierten Haaren entgegen: "Es kann nicht schaden, wenn man Verstand und Herz hat." Dass sie engagiert für grüne Ideale kämpft und angekündigt hat, dies auch in ihrem neuen Amt zu tun, hat ihr nicht nur die Sympathien des linken Flügels gesichert. Die 45-Jährige gilt auch bei "Realos" als Garant dafür, dass die Grünen ihr Profil in der rot-grünen Koalition schärfen. Ihre Wahl mit einem geradezu sensationellen Ergebnis von 91,5 Prozent ist auch ein Signal an enttäuschte Stammwähler. Roth gilt als "grünes Gewissen" und hat entscheidenden Anteil daran, dass sich die rot-grüne Koalition festgelegt hat, vor der Genehmigung von Rüstungsexporten die Menschenrechtslage zu prüfen. Sie war unter den sieben (von 47) Bundestagsabgeordneten, die gegen die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg stimmten - und sich damit gegen Außenminister Joschka Fischer stellten. Obwohl als "Fundi" bekannt, ist sie sehr wohl pragmatisch. Zum Parteitag reiste sie im Flugzeug an - in der Businessklasse. Vom alternativen Kleidungsstil hat sich "Claudi", wie sie von Parteifreunden genannt wird, längst verabschiedet. Inzwischen tritt die unverheiratete, kinderlose Frau im elegant-femininen Outfit auf. Mit dem Kovorsitzenden Fritz Kuhn vom "Realo"-Flügel pflegt sie ein harmonisches Verhältnis. Beide lernten einander vor 26 Jahren am Memminger Landestheater kennen, als sie Regieassistenz lernten. Das Zusammenspiel zwischen den zwei Grünen-Chefs dürfte gut funktionieren, zumal sie dieselbe Sprache sprechen: Beide sind Schwaben. Wobei sich Roth in all ihren Funktionen bei den Grünen - von 1989 bis 1998 war sie im Europaparlament, seither sitzt sie im Bundestag - eines bestimmten Zitatenschatzes bediente: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" und "Keine Macht für niemanden" sind einige Slogans der legendären Rockband "Ton, Steine, Scherben". In den Siebzigerjahren war Roth Managerin der Band. Die Musiker stellten sich auf dem Parteitag mit einem Lied ein, dessen Titel Roth zu ihrem Lebens- und künftigen Arbeitsmotto erkoren hat: "Ich will ich sein, anders will ich nicht sein." ´(DER STANDARD, Printausgabe, 12.3.2001)