Wien - In einer im Rahmen der österreichischen Historikerkommission erstellten Studie sind am Montag Fakten über die Versicherungspolizzen der jüdischen Österreicher in der NS-Zeit vorgestellt worden. Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel präsentierte als Koordinator des Projekts einen komplexen Sachverhalt, der im Wesentlichen zeigt, dass die Ansprüche der großen Mehrheit der jüdischen Lebensversicherungs-Nehmer rechtlich korrekt erledigt worden sind, dass den Begünstigten daraus aber praktisch immer große Verluste erwachsen sind. Die Forschungsarbeit wurde vom Versicherungsverband mitfinanziert, den Wissenschaftern war volle Unabhängigkeit zugesichert worden. Laut den Ergebnissen des Historikerteams hat es 1938 (nach offizieller Statistik) auf dem österreichischen Staatsgebiet etwa 21.000 Lebensversicherungspolizzen gegeben, die etwa 2,5 Prozent des (gemeldeten) jüdischen Vermögens ausgemacht haben. 70 bis 80 Prozent dieser Polizzen, schätzen die Historiker, sind vom emigrierenden Teil der jüdischen Bevölkerung vorzeitig zurückgekauft worden (und mussten im Rahmen von Abschöpfungssteuern oft gleich an den NS-Staat weitergereicht werden.) Weitere 15 Prozent wurden beschlagnahmt. Für etwa zwölf Prozent der Polizzen wurden später Entschädigungen bzw. Rückstellungen geleistet - wegen Krieg und Währungsreform allerdings nur zu einem Bruchteil der Versicherungssumme. "Einige hundert, vielleicht einige wenige tausend" Polizzen, schätzt Stiefel, sind bis heute nicht reklamiert worden bzw. unerledigt geblieben. Letztlich könnten aber auf Grund des lückenhaften Datenmaterials ebenso wie bei anderen Studien "keine eindeutigen und unbestrittenen Zahlen" geliefert werden, betonte der Zeitgeschichtler. So bleibt etwa als große Unbekannte, wie viele Polizzen 1938 den NS-Behörden verheimlicht wurden. Die Versicherungswirtschaft habe - jedenfalls nicht in großem Maßstab - von der Vertreibung und Enteignung der Juden aus Österreich/der Ostmark profitiert - und mit der Verfolgung auch eine gute Kundschaft verloren, meinte Stiefel. Andererseits ließ Stiefel keinen Zweifel daran, dass die nach dem Krieg gezahlten, auf vier Prozent des ursprünglichen Werts abgewerteten Entschädigungen mäßig "valorisiert" hätten werden sollen. Generell habe Österreich bei den Entschädigungen "sehr viel geleistet", aber "fast immer auf Druck von Außen und erst nach einem langen Verhandlungsprozess" agiert. Die Versicherungen hätten lange Zeit nach 1945 den Eindruck gehabt, sie hätten sich in der NS-Zeit ihren jüdischen Kunden gegenüber "korrekt" verhalten und sich später deren Interessen "angenommen", sagte Allianz-Chef Alexander Hoyos, der Präsident des Versicherungsverbandes, am Mittwoch bei der Vorstellung der Historikerstudie zu den jüdischen Lebensversicherungen in der NS-Zeit. Später sei man sich freilich "nicht mehr so sicher gewesen, ob dieser Eindruck nicht vielleicht doch eine Geschichtslüge" gewesen sei. Die österreichischen Versicherungen werden - jenseits noch unerledigter individueller Fälle - rund 25 Mill. Dollar (27,2 Mill. Euro/374 Mill. S) - in Rahmen jenes Teils der NS-Restitutionszahlungen aufbringen, für den die Wirtschaft aufkommen muss. Clemens Jabloner, der Vorsitzende der Historikerkommission, sagte, er erkenne eine Änderung "in der Einstellung der österreichischen Eliten", was die Befassung mit der NS-Vergangenheit betreffe, dies zeige sich auch in der Haltung des Versicherungsverbandes. Österreich habe in Sachen Rückstellungen/Entschädigungen einiges unternommen, doch sei dies "oft nur halbherzig und recht zögerlich" vonstatten gegangen. Und "gerade die Ärmsten konnten vom österreichischen Rückstellungssystem nur wenig gewinnen." Zum Antisemitismus meinte der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, er glaube nicht, dass dieser hier zu Lande in den vergangenen Jahren an "Breite oder Tiefe" gewonnen habe. Allerdings "gibt es einen Antisemitismus in Österreich und dieser findet immer einen Aschermittwoch, um sich zu artikulieren." Aufgelöste Polizzen lebensrettend Die Erkenntnisse der Historikerkommission zu den Lebensversicherungspolizzen seien nur schwer in einigen Kernsätzen zusammenzufassen - "die Details sind außerordentlich wichtig für die Fragestellungen dieser Zeit", so Stiefel. Ein Aspekt der von den Wirtschaftshistorikern angestellten Rechnungen ist, dass jene jüdischen Lebensversicherten, die 1938/39 ihre Polizzen vorzeitig aufgelöst haben, dadurch theoretisch besser ausgestiegen sind als jene jüdischen und nichtjüdischen Versicherten, die nach Krieg und Währungsreform lediglich symbolische Beträge zurückbekommen haben. Die Mittel aus den vorzeitig aufgelösten Polizzen seien aber wiederum oft notwendig gewesen, um die "Reichsfluchtsteuer" zu zahlen - womit sie sich wiederum als lebensrettend entpuppt hätten, sagte Stiefel. Für einen Teil der übrigen, 1941 staatlich beschlagnahmten, Polizzen wurden 1958 im Rahmen eines eigenen Gesetzes Entschädigungen gezahlt - die Summe betrug aber nicht mehr als 1,4 Mill. S. Der Löwenanteil dieser nach dem Krieg noch offenen jüdischen Polizzen entfiel auf die ÖVAG, die in der heutigen UNIQA aufgegangen ist. Die ÖVAG steuerte 1958 auch deutlich mehr als die Hälfte zur Entschädigungs-Gesamtsumme bei, hieß es. (APA)