Frankfurt/Main - Jahrelang laufen die Patienten von Arzt zu Arzt, doch ohne Erfolg. Sie klagen über Schmerzen in allen Gliedern oder in den inneren Organen, haben Kopfschmerzen, schlafen schlecht, fühlen sich niedergeschlagen oder leiden unter Stimmungsschwankungen. Doch keine Praxis, keine Klinik findet den Grund für ihr Leiden. Fibromyalgie nennen Mediziner dieses Phänomen: eine Vielzahl von Symptomen ohne organische Ursache. Schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen leiden darunter. Und diese Zahl wachse ständig, berichteten Experten am Donnerstag beim 12. Deutschen Schmerztag in Frankfurt. Frauen sind acht Mal häufiger betroffen als Männer, wie der Präsident des Schmerztags, Gerhard Müller-Schwefe, ausführte. Ärzte diagnostizieren Fibromyalgie, wenn der Patient mindestens drei Monate lang andauernde Schmerzen hatte und bei 11 von 18 Druckpunkten Schmerzen empfindet. Auslöser unbekannt Wie Fibromyalgie entsteht, ist unklar. Für die stichhaltigste Begründung hielten die Experten in Frankfurt eine Störung der körpereigenen Schmerzhemmung. "Normalerweise lösen Schmerzen eine Gegenreaktion aus, die den Schmerz wieder abschwächt", erklärte Prof. Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. "Dieser Mechanismus könnte bei Fibromyalgie-Patienten gestört sein." Die Krankheit wäre demnach eine Art Überempfindlichkeit aller Nervenzellen. Dass die Schmerzhemmung gestört ist, könnte psychisch begründet sein. "Unter Fibromyalgie leiden besonders oft Frauen, die ihr Leben lang stark gefordert waren. Sie mussten sich immer um andere kümmern - die Krankheit ist ein Weg für sie zu sagen: 'Jetzt muss sich mal jemand um mich kümmern'", erklärte Prof. Gerald Aronoff vom Presbyterian Rehab-Center in Charlotte (USA). Andere Forscher gehen davon aus, dass die Patienten einfach den Alltagsstress nicht ertragen. 0815-Diagnose Weil das Phänomen so schwer fassbar ist, kann es nahezu beliebig diagnostiziert werden, kritisierte Aronoff. "Immer wenn ein Arzt nicht weiter weiß, sagt er: Sie leiden unter Fibromyalgie. Da kann man nichts machen", überspitzte er. Auf den Patienten habe dies eine einschneidende Wirkung, warnt Zieglgänsberger: "Die Diagnose ist für sie wie ein Stock, den sie nicht mehr loslassen." Endlich habe ihr Leiden einen Namen. Und das bedeute: Die Krankheit existiert, ich habe mir das nicht eingebildet, ich bin nicht verrückt. "So produziert ein ganzer Apparat von Fibromyalgie-Experten und Selbsthilfegruppen immer neue Patienten", erklärt sich Müller- Schwefe die steigende Zahl der Fälle. Dies sei für die Betroffenen fatal, weil es das Leiden "negativ verstärke" und verhindere, dass den Patienten angemessen geholfen wird. Grundfalsch sei jedenfalls, die Patienten in die Frühpensionierung zu schicken. Zumindest in den USA versuchten viele Menschen, die nicht nachweisbaren - und daher auch nicht widerlegbaren - Beschwerden für den Abschied aus dem Beruf zu nutzen, berichtete Aronoff. Dabei verspreche gerade das Gegenteil Hilfe: nämlich Aktivierung. Die Menschen müssten raus aus der Schmerz-Isolation und raus aus ihren psychischen Belastungen. "Die Veränderung des Lebensstils muss im Vordergrund stehen, nicht Medikamente", sagte Zieglgänsberger. Auch autogenes Training oder Entspannungsübungen könnten helfen. (APA/dpa)