Ich war vor kurzem in den USA, um in Interviews mit Aktienhändlern Aufschlüsse über ihre Handelsstrategien zu gewinnen. Die Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen:

O Aktienhändler bilden sich ihre Erwartungen lediglich über die Richtung künftiger Kursbewegungen, nicht aber über das Gleichgewichtsniveau der Kurse.

O Neue Informationen, etwa über Unternehmensgewinne, werden in Sekundenschnelle als Signale über die wahrscheinliche Reaktion der (meisten) anderen Marktteilnehmer interpretiert, um so Rückschlüsse über die nachfolgende Kursbewegung zu ziehen.

O Die Informations- und Kommunikationstechnologien führen zu einer stetigen Beschleunigung des Aktienhandels. Dementsprechend gewinnt das "day trading" - kurzfristiger Handel mit Aktien und Derivaten innerhalb eines Tages - an Bedeutung.

O Da neue Preissignale viel häufiger auftreten als "fundamentale" Informationen, folgen immer mehr Akteure "trading systems", die meist auf der "technischen Analyse" beruhen. Diese verarbeiten nur vergangene Preise (etwa Minutendaten) mit dem Ziel, Kursschübe zu identifizieren.

O Die Exekution der Kauf-bzw. Verkaufssignale der "trading systems" verstärkt und verlängert die Kursschübe.

O Die "Grundenergie" für das spekulative "Überschießen" von Aktienkursen nach oben und unten (siehe die Nasdaq) besteht in Emotionen wie der Gier nach schnellem Gewinn oder der Furcht vor großem Verlust und ihrer Vernetzung zu manisch-depressiven Schwankungen der Marktstimmung.

Unter diesen Bedingungen existiert kein fundamentales Kursgleichgewicht. Dementsprechend bewegen sich Aktienkurse (aber auch Wechselkurse, Zinssätze und Rohstoffpreise) in kurzfristigen Schüben nach oben und unten, die zu "bull markets" bzw. "bear markets" kumulieren.

Aktienboom

Der letzte Aktienboom fiel in den USA aus zwei Gründen besonders überschießend aus. Die zunehmend ungleiche Einkommensverteilung, die New-Economy-Euphorie, die wachsende Spekulationsfreude und die Ausweitung privater Pensionsvorsorge haben die Nachfrage nach Aktien stark steigen lassen. Gleichzeitig nahm das Angebot deshalb nicht zu, weil die Emissionen (insbesondere neuer Firmen) durch Aktienrückkäufe "etablierter" Firmen ausgeglichen wurden. Je stärker dadurch die Aktien überbewertet wurden, desto höher wurde die Wahrscheinlichkeit einer Gegenbewegung. Diese wurde schließlich vor einem Jahr durch eine - darauf abzielende - Serie von Zinserhöhungen der US-Notenbank herbeigeführt.

Seither hat der Nasdaq-Index 60 Prozent seines Werts verloren, der breiter gestreute S&P 500 fast 25 Prozent. Hauptverlierer dieser Entwicklung sind jene - überwiegend privaten und eher kleinen - Anleger, die relativ spät auf den Aktienboom aufgesprungen waren sowie generell all jene, die durch Aktienkäufe (auch via Pensionsfonds) für ihr Alter vorsorgen wollten. Ihre Pensionsansprüche schmelzen jetzt mit den Kursverlusten dahin.

Ein Ende der Talfahrt ist wegen mehrerer Teufelskreise nicht in Sicht. Erstens ist die Grundstimmung "bearish" geworden, was professionelle Händler dadurch profitabel nützen, indem sie bei Aktienderivaten (Futures und Optionen) "short positions" aufbauen; dies drückt wiederum auf die Kurse.

Zweitens dämpfen die Kursverluste die Konsumnachfrage und damit die Unternehmensgewinne, was die Kurse weiter sinken lässt. Drittens werden Anleger umso stärker auf Anleihen oder Cash umsteigen, je länger die Talfahrt der Kurse anhält.

Auch in Europa hat die private Pensionsvorsorge an Bedeutung gewonnen. Einerseits brachte die hohe Arbeitslosigkeit - mitverursacht durch die Instabilität von Zinssätzen, Wechselkursen, Aktienkursen und Rohstoffpreisen - und die damit verbundene Zunahme der Frühpensionen die soziale Pensionsversicherung in Bedrängnis, andererseits ließ der Aktienboom die Altersvorsorge durch das Kapitaldeckungsverfahren besonders attraktiv erscheinen. Gefördert wurde diese Entwicklung durch den neoliberalen Zeitgeist, wonach Marktlösungen grundsätzlich effizienter seien als solche der (Sozial-)Politik.

Lotteriespiel

Tatsächlich sind aber soziale und private Pensionsvorsorge in einem Punkt ähnlich. In beiden Systemen verzichten die Erwerbstätigen auf einen Teil des Gesamtprodukts, indem sie Beiträge an die soziale Pensionsversicherung oder an den Finanzsektor leisten, Letztere zahlen die Ansprüche der Pensionisten aus. Beim Kapitaldeckungsverfahren ist allerdings die Höhe der tatsächlichen Altersversorgung prinzipiell unsicher, weil sie von der Entwicklung der vielfach irrationalen Finanzmärkte abhängt - zwischen Einzahlung und Auszahlung ist ein Casino dazwischengeschaltet. Je größer die Schwankungen der Kurse, desto mehr verkommt das Kapitaldeckungsverfahren zu einem Lotteriespiel.

Überdies kostet die Verwaltung der Altersvorsorge durch Finanzveranlagung viel mehr als jene der sozialen Pensionsversicherung (man vergleiche etwa Gehälter und "Etablissements" des Finanzsektors mit jenen der Sozialversicherungen). Die jüngsten und kommenden Aktienturbulenzen bieten die Chance für eine nüchterne Neubewertung privater und sozialer Altersvorsorge.
Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher in Wien