Istanbul - Gut 15 Monate nach der Anerkennung als EU-Beitrittskandidatin und mit dreimonatiger Verspätung hat die Türkei am Montag ihr Programm für den EU-Beitrittsprozess vorgelegt - und damit alle verbliebenen Erwartungen einer baldigen Mitgliedschaft begraben. Zentrale Beitrittskriterien der EU werden in dem türkischen Programm einfach übergangen oder sogar zurückgewiesen, zu anderen Reformforderungen werden nur die vagsten Zusagen gemacht. Die EU-Kommission wird es mit Fassung tragen und erneut darauf verweisen, dass es ohne Erfüllung der Kopenhagener Kriterien keine Aufnahme geben kann. Die Türkei hat ihren Platz in Europa gefunden - als ewiger Kandidat, nicht ganz drin und nicht ganz draußen. In dem sogenannten "Nationalen Programm" sollte Ankara auf Wunsch der EU den Zeitpunkt und die Art der Reformen festlegen, die Brüssel in seiner "Beitrittspartnerschaft" für die Türkei zu Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen erklärt hatte. Unter anderem verlangte die EU darin von Ankara, noch in diesem Jahr die Meinungsfreiheit auszuweiten, die Folter einzudämmen, den Rechtsstaat zu stärken und den Kurden eigene Fernsehprogramme zu gewähren. Bis 2004 sollte die Türkei demnach die Todesstrafe abschaffen und den Kurden muttersprachlichen Unterricht zugestehen. Damit sieht es nach der Vorlage des türkischen Programms schlecht aus. Die Erwartungen der Europäer an das Dokument waren ohnehin nicht mehr hoch, nachdem die türkische Regierungskoalition sich seit Monaten über die Brüsseler Forderungen zankte und das eigentlich im vergangenen Dezember erwartete Programm mehrfach hinausgezögert hatte. Doch das jetzt vorgelegte Dokument enttäusche selbst die gedämpften Erwartungen, sagen EU-Diplomaten in Ankara. Nicht einmal auf die uneingeschränkte Gewährung der Meinungsfreiheit will Ankara sich in seinem "Nationalen Programm" festlegen. Die Anpassung der Meinungsfreiheit an den europäischen Standard werde mit Blick auf den Schutz der territorialen Integrität der Türkei und ihre nationale Sicherheit sowie die Bewahrung ihres säkulären Charakters und ihrer nationalen Einheit geprüft, heißt es in dem jetzt verabschiedeten Programm. Als konkrete Schritte zur Ausweitung der Meinungsfreiheit will die Regierung sich lediglich auf eine Überprüfung der einschlägigen Bestimmungen einlassen, darunter das Anti-Terror-Gesetz und der zur Bestrafung missliebiger Äußerungen genutzte Volksverhetzungsparagraph. Noch brüsker geht die Regierung mit der Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe um, die der EU als absoluter Knackpunkt für den türkischen Beitrittsprozess gilt. Das türkische Parlament werde sich mittelfristig mit dieser Frage befassen, heißt es dazu lakonisch in dem Programm - ohne jede Gewähr. Zum EU-Kriterium der völligen Sprachfreiheit für die Kurden und anderen Minderheiten wird lediglich vermerkt, dass ohnehin niemand daran gehindert werde, seinen Dialekt zu sprechen. Von kurdischem Fernsehen oder gar Unterricht ist keine Rede - im Gegenteil weist das Programm noch einmal betont darauf hin, dass Türkisch die Amtssprache der Türkei sei. Was die EU wohl zu einem solchen Programm sagen werde, fragt sich selbst die nationalistische Zeitung "Hürriyet". Die Reaktionen aus Brüssel und den einzelnen EU-Staaten dürften allerdings zurückhaltend ausfallen, heißt es in EU-Kreisen. Brüssel weist seit Monaten darauf hin, dass der Ball im türkischen Feld liege - wenn die Türkei ihn nun nicht aufnimmt, dann ist das vor allem ihr eigenes Problem. Allzu harsche Kritik der Union könnte zudem eine Trotzreaktion in Ankara auslösen und zum völligen Verzicht der Türken auf die Kandidatur führen, was ebenfalls unerwünscht ist. Mit der ewigen Kandidatur können dagegen beide Seiten leben: Die Türkei hält sich ihre Optionen offen, ohne die schmerzhaften Reformen anpacken zu müssen, und die EU hält die Türken eingebunden, ohne sie in absehbarer Zeit aufnehmen zu müssen. (APA)