In einem politischen Gemeinwesen, das sich als "civil society" versteht, sollte man das plakative Wort "Wende" nur mit äußerster Sorgfalt verwenden. Verkündet eine minoritäre Gruppe eine Wende, dann steckt darin eine Anmaßung, die Bedrohungsgefühle mobilisiert, welche ein billiges Alibi gegen anstehende gesellschaftliche Veränderungen bieten. Eine Wende, die diesen Namen verdient, ist das Ergebnis eines kollektiven Erfahrungsprozesses, der in einer ebensolchen Diskussion verarbeitet wird - eine derartige Wende wird ausgehandelt und liegt im Konsens. Erfahrungen gibt es wohl einige, doch der Diskussionsprozess rund um sie ist merkwürdig unterentwickelt. Um nur eine herauszugreifen: Wie ist das eigentlich mit der Telekom-Aktie? Es gibt 20 oder 200 Theorien, warum das Papier seit seiner Ausgabe etwa dreißig Prozent seines Wertes verloren hat und in absehbarer Zeit nicht einmal den Ausgabekurs erreichen wird; die Presse beschuldigt oder verteidigt Personen und macht Konstellationen verantwortlich, doch die Diskussion bleibt sozusagen im technischen Bereich stecken. Die Peinlichkeit der Sache, der Umstand, dass vor allem jene Landsleute, die in der Hoffnung auf einen schnellen Gewinn Kredite aufgenommen haben, ziemlich viel Geld veloren haben, ist bisher kaum erörtert worden. Börsenexperte Gusenbauer? Jenes männerbündlerische Milieu selbst ernannter Börsenexperten, das man politisch korrekt die "Volksaktionäre" nennt, das aber auf weiten Strecken in seinen Verhaltensformen gar nicht so weit entfernt ist vom Stammtisch, wo man sich wechselseitig bestätigt, der oder die Beste zu sein, ist prinzipiell einer soziologischen Untersuchung wert. Dort hat man sich entschlossen, das selbst gehegte besserwisserische Image für wichtiger zu erachten als den Verlust, und sich auf die Formulierung geeinigt: Wer Telekom kauft, ist selbst schuld. Vor Tisch las man's anders. Wer erinnert sich heute noch an die Euphorie des Börsenganges mit seinem Gerede von der neuen Wiener Aktienkultur in der Ära nach der Telekom und an all die Hoffnungen auf einen schnellen Gewinn durch das potemkinsche Ticket? Es ging ja diesmal nicht um irgendein Start-up-Unternehmen mit nicht viel mehr als einer guten Idee und mit einem kräftigen Werbeetat, sondern um ein im ganzen Land sichtbares Staatsunternehmen. Jeder konnte sich als Bulle fühlen und die Rolle desjenigen, der die Gewinnerwartungen der potenziellen Aktionäre aufstachelte und uns die Telekom-Aktie als "Schnäppchen" vorstellte, hat in den Debatten um den Ausgabekurs Alfred Gusenbauer gespielt: Österreichisches Volksvermögen werde hier unter dem Wert verschleudert. Ein Journalist hat dieser Aussage des selbst ernannten Börsenanalysten schon damals witzig gekontert: Wenn die sozialdemokratischen Parteimitglieder die Aktie kaufen würden, dann könnte der drohenden Verschleuderung von Volksvermögen ins Ausland ein Riegel vorgeschoben werden. Das haben die Gefolgsleute Gusenbauers nicht getan; zu ihrem Glück übrigens. Für Gusenbauer bleibt die Fehlprognose folgenlos - Politiker haften für wenig und schon gar nicht für ihre finanzpolitischen Expertisen. Dennoch sollte man sich seine Argumentation genauer anschauen, denn durch die Intervention des SPÖ-Vorsitzenden ist die Frage der Kursentwicklung in den Mittelpunkt einer laufenden innerösterreichischen Debatte geraten. Gusenbauer hat ja scheinbar nicht als Traditionssozialist argumentiert, als Verteidiger der überkommenen staatlichen Organisationsform von Großunternehmen, sondern hat seine Beschwerde unter die Logik der neuen Zeit gestellt, der Logik der globalisierten Aktienmärkte. Man kann von seiner Aufrichtigkeit ausgehen: Er hat wirklich geglaubt, dass der Wert der Telekom-Aktie trotz der notorischen Probleme des Unternehmens im zweistelligen Euro-Bereich liegt, der Markt allerdings hat dieser Einschätzung ein kaltes und klares Nein entgegengestellt. Wertvolle Hinterlassenschaft? Und genau da liegt der Punkt, wo der Fall der Telekom-Aktie über den Anlass hinaus Bedeutung gewinnt. Hier ist auf dem nationalen und internationalen Markt eine der zahlreichen Diskussionen rund um einen tiefen Konflikt der österreichischen Gesellschaft ausgetragen worden: Was ist unter den geänderten internationalen Spielbedingungen das Erbe der Gründergenerationen der Zweiten Republik, alle diese gigantischen, überregulierten und monopolistischen Dinosaurier, welche die große Koalition pietätvoll konservierte, eigentlich wert? Dieser Konflikt ist international, und am schärfsten ausgetragen wurde er rund um die Erbschaft der untergegangenen DDR. Noch einmal: Eine Wende basiert auf kollektiven Erfahrungen und ihrer diskursiven Verarbeitung. Es gibt viele anstehende Fälle, wo sich die Frage nach dem Wert der Hinterlassenschaft der Vergangenheit stellt. Die Telekom-Aktie hat damit den Charakter einer Metapher gewonnen und kann als Anlass eines Lernprozesses dienen. Wer hier die falsche Seite bezieht, den wird das noch viel Geld kosten - wie die armen Telekom-Aktionäre, die an ihrem Elend angeblich selbst schuld sind. (DER STANDARD, Printausgabe 22.3.2001)