Literatur
"Wo bleibt der zweite Schuss?"
Max Ophüls und seine Retrospektive im "Journal des Verschwindens" (XXI)
Am 10. Februar 1923 ist der Schauspieler Ophüls bei einer Hamlet
-Vorstellung im hiesigen Stadttheater dadurch verletzt worden, dass dem Darsteller des Hamlet beim Ziehen des Schwertes die Klinge aus der Scheide flog und den Ophüls dicht beim Auge traf", schreibt die Aachener Allgemeine Zeitung. Die Krankenkasse wartete auch 1923 in Aachen mit der Erstattung der Kosten so lange, bis das Geld nichts mehr wert war. Eine Narbe unter dem rechten Auge blieb.
Auch als Mörder Wallensteins ("expressionistische Ausstaffierung und das ganze Gehabe") kam er nicht wirklich an, und von Aachen kam man nicht ganz leicht nach Dortmund: Militärkontrollen nach dem Krieg. Um Weihnachten trat er in
Peterchens Mondfahrt
auf, aber: "Wofür seit Jahren im Stillen gelebt war, konnte hier wirklich wer-den: der Übergang zur Regie", schreibt er. Der kam nicht ganz von ungefähr. Auch von Fehling und Reinhardt heißt es, sie seien schlechte Schauspieler gewesen.
Zehn Jahre später hat dieser Max Ophüls
Liebelei
, den schönsten Film aus 100 Jahren Kino, gedreht, keinen Film, in den Cineasten halt gehen. Es war nicht zu erwarten, dass Ophüls jeden weiteren Versuch der Filmgeschichte in Richtung Trivialität - Schnitz- ler als Vorlage - überflüssig machte: ein Film auf einer Wegkreuzung, der auf alle Spielbergs und Taboris gerne verzichten lässt. Eine Wegkreuzung auch, wo ein sehr unspektakuläres Leben, der Kleinstadt Saarbrücken nur langsam entflohen, fünf Schauspieler choreographiert, knapp vor dem Weg in den Untergang. Dieses Leben, das zu diesem einzigen Film führte, interessiert mich.
Im Vereinigten Stadttheater Barmen-Elberfeld stellt Ophüls sich kurz vor: nach der Oberrealschule Zeitungsredakteur beim
Saarkurier
, wo er für zwei Jahre blieb. Entscheidend aber der Übergang zur Regie. Er war glücklich und fast für alles dankbar. Aber Dankbarkeit war noch selten der Karriere förderlich, jede Art von Arroganz hätte ihn rascher vorangebracht. Was hielt ihn davon ab? Der Gedanke an die Spaziergänge mit der Großmutter in Worms am Rhein, an den Jahrmarkt und das dunkle Zelt, an das Tintenglas (ein Liter Tinte) auf der Bühne, an Saarbrücken, wo nichts war.
Sein erster Lehrer brachte ihm statt Lesen und Schreiben Singen bei und ging mit seinem Dackel auf die Jagd. "Wir sangen laut, und durch seine freche und primitive Art habe ich meine ganze Liebe zur Musik entwickelt." Er lernte auch mit einer Freundin Gitarre, las
Robinson Crusoe
,
Nils Holgersson
und
Onkel Toms Hütte
. Zu Weihnachten gab es das traditionelle Essen, aber keinen Baum, der war dem Vater zu christlich.
"Mein Vater, Sohn eines jüdischen Schullehrers und seiner Frau Kardine", schreibt Ophüls, "öffnete mir die Augen nicht nur, er riss sie mir auf." Er war streng, aber weltoffen und zeigte seinen Kindern schon kurz nach Kriegsende die Schlachtfelder von Verdun. Er war von Anfang an gegen den Krieg gewesen, auch wenn er in seinem Laden Uniformen samt dazugehörigen Accessoires anfertigte und verkaufte. Eines Tages ließ sich auch der in der Nähe stationierte Stabsarzt Alfred Döblin eine neue Uniform schneidern.
Zickzackweg
Eigentlich kam alles folgerichtig: das Chorsingen, Lützows wilde, verwegene Jagd, die ersten Freundinnen: Cecilie Blum, selbst literarisch interessiert, Pauline Heroo, die Klavierunterricht gab, und Meta Fränkel, die er sonntagmorgens besuchte. Zur Verlobung am 20. 3. 1926 schenkte er der schließlich erwählten Hilde Wall "mit frohem Herzen" die in sein Schulheft geschriebene Rezension der Aufführung von
Armut
(Wildgans) - ein unglaublicher Zickzackweg zur
Liebelei
.
Freust du dich auf Wien
musste er auch inszenieren, es fiel auf den 5. 11. 1925. Er lässt die Frage offen, bemerkt aber später: "Ich habe mich in Wien nie richtig einleben kön-nen. Das Schicksal hatte mich in eine wunderschöne, vergoldete vierspännige Rokokokarosse gesetzt, und ich wollte eigentlich Motorrad fahren." Immerhin war er von der zerbröselnden Pracht und einer heftig aufflammenden Liebe so geblendet, dass seine kaum vorhandene Freude auf Wien geweckt wurde und er zusätzlich einen Perser in Shaws
Cäsar und Cleopatra
spielte.
Man beginnt um seine Kräfte zu fürchten, fröstelt bei dem Gedanken, dass es nicht zur
Liebelei
kommen könnte. Aber auch das blindeste Schicksal kann eine Sekunde lang hellsichtig werden: Von wem das gleichnamige Bühnenstück ist, muss man nicht weiter betonen. Vielleicht eher den Filmschnitt von Friedl Buckow, die schon damals keiner kannte, die Masken von Charlotte Pfefferkorn. Produktionsvorbereitung: Hermann Millokowska.
Kein Filmriss, kein Türenknarren, keine Geste ist auswechselbar. Magda Schneider, Luise Ullrich, Gustaf Gründgens, Paul Hörbiger, Wolfgang Liebeneiner - auch sie sind hier unauswechselbar. Selbst sie aber wären es, wenn sie nicht Ophüls so und nicht anders kombiniert hätte. Er lässt Haydn, Mozart, Gounod aufspielen (musikalische Leitung Theo Mocheben), er wählt Schreiberhau im Riesengebirge für das verschneite Ambiente aus: Für die aufkommende Liebe zwischen Magda Schneider und Wolfgang Liebeneiner (schön, labil und etwas doof wie die meisten Helden). Schnee auch für den Tod: nach dem Duell - Luise Ullrich, die Handschuh-verkäuferin im dunklen Hut am Waldrand, und die wiederholte Frage: "Wo bleibt der zweite Schuss?"
Was bleibt oder legt Wert darauf zu bleiben? Davon kann man hier leicht absehen. Erstaufführung: Frankreich. Zensurlänge 2412 Meter, 88 Minuten, deutsche Erstaufführung 10. 3. 1933, Leipzig. Ab 24. 2. 1933 im Opern-, Imperial-, Kärntner-, Busch-, Haydn-, Flieger- und Theaterkino in Wien. Und heute, 21. 3. 2000: in allen Wiener Kinos nur Dreck. Einige Tage noch aber eine Ophüls-Retrospektive, leider im Filmmuseum, wohin die wenigen geraten, die fürs Kino ihre geraden Knochen riskieren.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23. 3. 2001)