DieStandard.at: Eltern mit einem halbjährigen Baby, das nicht essen wollte, kamen verzweifelt nach Graz ins LKH, nachdem sie schon halb Europa abgeklappert hatten. Nach wenigen Wochen hat die Familie Ihre Station verlassen. Das Baby musste nicht mehr zwangsernährt werden. Wie haben Sie das geschafft? Dunitz-Scheer: Diese Frage ist blöd zu beantworten, wenn man gern bescheiden ist. Sagen wird so. Uns als Team ist es gelungen, in den letzten Jahren eine große Expertise bei Essstörungen im Alter zwischen Null und 20 Jahren zu sammeln. Bei uns haben alle, von den Ärzten bis zu den Pflegern und Sozialarbeitern zusätzlich zur eigentlichen Ausbildung auch noch eine psychotherapeutische Ausbildung. Wir sind spezialisiert auf posttraumatische Esstörungen. DieStandard.at: Was war also mit dem Baby? Dunitz-Scheer: Es hatte sich im dritten Lebensmonat mit Keuchhusten angesteckt. Das Trinken an der Mutterbrust wurde zum Albtraum. Dann hat man auf Flasche umgestellt. Darauf hat das Kind erbrochen, aus seiner Sicht ein reiner Schutzmechanismus. Das wurde falsch interpretiert, das blöde Kind ist zu blöd zum Essen. Es wurde operiert, so dass es nicht mehr willentlich erbrechen konnte. Nun fühlte sich das Kind existenziell bedroht und hat sich dem Essen total verweigert. Es musste zwangsernährt werden. DieStandard.at: Wie wurde das Kind geheilt? Dunitz-Scheer: (lacht) Wir haben ihm das Essen gelehrt. Essen klingt ja einfach, ist aber eine hochkomplizierte Sache. Man muss dazu optisch angeregt werden, man muss motiviert sein, über eine Mindestmotorik verfügen, man muss schlucken können und die Muskeln richtig öffnen können, damit alles schön richtig durchgeht. Der gesunde Mensch hat für das Essenlernen wenig Einfühlung, weil er denkt, wenn wer essen will, ist das einfach. DieStandard.at: Teamarbeit hat zum Erfolg geführt. Welche Rolle spielen Sie dabei? Dunitz-Scheer: Well, ich bin so etwas wie the manager des Ablaufes. DieStandard.at: Neben ihrer Arbeit an der Universitätsklinik arbeiten Sie auch als Psychotherapeutin und kümmern sich auch noch um insgesamt acht Kinder. Wie schaffen Sie das? Dunitz-Scheer: Well, im Prinzip ist das eine Frage der Organisation, der Kraft und der Balance zwischen Kontrolle und Selbstorganisationsförderung. Wir haben zu Hause eine geschlechtsspezifische Aufteilung, vielleicht ist das ein jüdisches Spezifikum. Mutter- und Vateraufgaben sind nicht verwischt. Der Kleinkram innerhalb der vier Wände ist eher Muttersache. Mein Mann würde nie aufzählen können, wo sich unsere acht Kindergerade aufhalten. Ich schon. DieStandard.at: Wie machen sie das rein organisatorisch? Dunitz-Scheer: Wir führen einen zentralen Familienkalender. Der hat für uns eine fast mystische Bedeutung. Alle unsere Kinder, die zwischen fünf und 23 Jahre alt sind, tragen ihre Projekte ein ,die möglicherweise in Konflikt geraten mit den anderen: Judoturniere, Geburtstage, Angelobung zum Bundesheer. Es ist eine Frage der Organisation, aber auch des Vertrauens. Mutter sein heißt auch, nicht immer alles zu wissen. DieStandard.at: Was bedeutet für Sie Familie? Dunitz-Scheer: Eine lustvolle, produktive, einander weiterbringende Beziehungsfusion. Disharmonie liegt dann vor, wenn der eine oder andere Partner sein Entwicklungspotenzial nicht weiter entfalten kann. Keine Störung liegt vor, wenn jeder in seinem Erdreich die Triebe ausfahren kann, die ihm gegeben sind. DieStandard.at: Wie kam es zu Ihrer Berufswahl? Dunitz-Scheer: Das war ein ziemlich bewusster Wunsch als ich elf Jahre alt war und meine zweitbeste Freundin an einem Karzinom verstorben ist, nach einem Jahr. DieStandard.at: Wollten Sie niemals was anderes werden? Dunitz-Scheer: Dirigentin. Das würde ich auch heute noch gerne werden. Beeinflusst hat mich mein Vater, Biochemiker und Grundlageforscher und der Vater meiner besten Freundin, damals Direktor des Züricher Konservatoriums. Ich würde immer noch gern beide Welten zusammenführen. Die Kunst ist ja voll von Grenzgängern, die ein existenzielles Bedürfnis haben, sich auszudrücken. Und die Krankenhäuser sind voll von Menschen, die das nicht können. Therapeutisch müsste es sehr heilsam sein, beide Welten zusammen zu führen. Die Standard.at: Gibt es mehr Frauen als Männer in Ihrem Beruf? Dunitz-Scheer: Viel mehr Männer. Frauen haben es in gewissen Dingen leichter und anders wieder schwerer. Krankenhäuser sind ja streng hierarchische Gebilde, wo überdurchschnittlich viel Männer oben sitzen und die Frauen spuren. Wenn eine Frau kommandiert, ist die Akzeptanz viel schwerer. Andererseits habe ich emotional einen besseren, partnerschaftlichen Zugang zu meinen KollegInnen und das ist positiv für meine Arbeit. DieStandard.at: Betrachten Sie sich als emanzipierte Frau? Dunitz-Scheer: Sicher. Auf der anderen Seite – und das ist für mich kein Unterschied – sehe ich mich auch als eine sehr rollenunterschiedsbewußte Frau. Ich sehe darin keinen Gegensatz, obwohl mir bewußt ist, dass das einige sogenannte Emanzen sehr schwer finden, unter einen Hut zu bringen. Mann und Frau sind verschieden. DieStandard.at: Was würden Sie sich wünschen, wenn sie eine Stunde die Welt verändern könnten? Dunitz-Scheer: Zwei Wünsche. Erstens würde ich alle Gitterbetten in allen Spitälern abschaffen. Kinder, die hinter Gittern stehen, sind in einer hilflosen Opfersituation, die für den Genesungsprozess keineswegs förderlich ist. Zweitens wünsche ich mir Schluss mit der 200 Jahre alten Tradition des Westens, Kinder in horizontaler Lage zur Welt zu bringen. Stehzeiten während der Geburt haben katastrophale Folgen für die Kinder und führt zum Teil zu irreparablen Situationen. Besser wären Geburten in vertikaler Lage, wie sie im Osten praktiziert werden. In den USA fängt man immerhin schon mit Kippbetten an. DieStandard.at: Welche drei Dinge (nicht Kinder) würden Sie auf die berühmte einsame Insel mitnehmen? Dunitz-Scheer: Laptop, genug Papier, genug Schreibzeug.