Sandstürme aus der Wüste Gobi und der Mongolei haben dieser Tage Chinas Hauptstadt innerhalb von Minuten in Schwaden von Sand und Staub gehüllt. Die gesamte Stadt wurde in fahles gelbliches Licht getaucht. Hun- derttausende Fahrradfahrer mussten sich Gazemasken überziehen, Mützen aufsetzen und Windböen bis Stärke acht trotzen. Peking wurde damit zum fünften Mal in diesem Jahr von Ausläufern schwerer Sandstürme über Nordwestchina erwischt. In den kommenden Tagen sei mit weiteren Sandstürmen zu rechnen, warnten die Wetterämter. "Ist das der Frühling, auf den wir so hoffen?", fragte die Pekinger Jugendzeitung gestern auf ihrer Titelseite. Für Meteorologen war es der "stärkste Sandsturm seit einem Jahr" und die klimatische Antwort auf einen "zu früh" endenden Winter mit extrem hohen Temperaturen in den vergangenen Tagen, die am Montag mit 23,5 Grad sogar den Jahresrekord innerhalb von 50 Jahren erreichten. Die Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) zitierte Forscher, die die Wüstengebiete von Chinas Nordwesten heute als Hauptbestandteil der Wüstenregion Zentralasiens und als eine der Ausgangsregionen für weltweite Sandstürme ansehen. Alarm des Premiers Der jüngste über Peking tobende Sandsturm, der diesmal auch viel an poröser, trockener Erde Nordchinas mitschleppte, zeigte, wie berechtigt der Alarmruf von Chinas Premierminister Zhu Rongji vor dem jüngsten Plenum des Nationalen Volkskongresses gewesen war. Zhu hatte die Abgeordneten Anfang März aufgerufen, keine Zeit zu verlieren, um gegen die zunehmende Plage und zerstörerische Gewalt der Sandstürme durch energische Gegenmaßnahmen und Aufforstungskampagnen im Nordwesten vorzugehen. "Die Tage der Sandstürme sind gezählt", hatte darauf Chinas Presse geschrieben. Das ist indes mehr, als nur voreilig gejubelt. Die Zahl der Sandstürme über Peking und dem Norden nimmt derzeit weiter zu. Im vergangenen Jahr zählte China 15 Sandstürme, so viel, wie sich in den Achtzigerjahren insgesamt ereigneten. Jährlich werden mit dem Wind eine Million Tonnen Sand angeweht. Bodenwissenschafter haben an sechs Stellen um Peking im Umkreis von hundert Kilometern Anhäufungen an Sanddünen und Wüstenflecken entdeckt, die sich Jahr um Jahr ausdehnen. Die Sandzungen kriechen mit zwei bis drei Meter pro Jahr auf Peking zu. Die nächstliegende Stelle der Sandanhäufungen ist nur noch 18 Kilometer vom Vorort Huairou entfernt. Noch im vergangenen Jahr fanden Pekinger Stadtbewohner die Wüste vor ihren Türen eher exotisch als beunruhigend. "Picknick im Sand" wurde für Familien mit eigenem Auto zum beliebten Ausflugsziel im Frühjahr. Geschäftstüchtige Wüstenmanager verlangten Eintrittsgelder für die zum "Naturpark" erklärte Tianmo-Wüste unweit der Großen Mauer. Verschärfte Erosion Klimaforschern ist dagegen nicht mehr zum Lachen zumute. Ihre Zahlen, die Xinhua veröffentlichte, zeigen die dramatische Veränderung der Umweltbedingungen Chinas. Lebensfeindliche Wüsten bedecken 27,3 Prozent des Landes. Sie dehnen sich seit den 90er-Jahren um 2460 Quadratkilometer jährlich aus nach 2100 Kilometern in den 70er- bis 80er-Jahren und 1560 Kilometern in den 50er-Jahren. Ebenso rasch nimmt die Bodenqualität und Widerstandsfähigkeit ab. 3,67 Millionen Quadratkilometer oder 38 Prozent der chinesischen Landfläche sind heute bereits verwittert und der Erosion ausgesetzt. Jedes Jahr kommen eine Million Hektar dazu. Jahrzehntelange Fehler bei Anbau und Bewässerung, Abholzung, Urbarmachung und Überweidung haben riesige Grasländer in staubige Steppen verwandelt. Der Wind hat über dem Nordwesten heute freie Bahn. "Xibu de baofu" (die Rache des Nordwestens) haben Pekinger die Sandstürme im Volksmund getauft. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26.3.2001)