Wien - "Sind die österreichischen Verhältnisse so esoterisch, so unübersetzbar, dass nur inländisch Verstrickte sie interpretieren können?" Natürlich nicht; "töricht" sei diese in Österreich verbreitete Annahme: Jacques Le Rider, der renommierte Austriazist, vertrat an der Universität Wien, bei der Ringvorlesung über europäische Einschätzungen der österreichischen Gegenwartsgeschichte, die französische Perspektive. In Frankreich hätten zwei gegensätzliche Österreich-Bilder Tradition, beide untrennbar mit Deutschland-Bildern verbunden: Österreich-Ungarn, die zentraleuropäische Völkergemeinschaft, als leuchtendes Gegenbild zum preußischen Imperialismus; oder aber, Kontrast zum protestantischen, progressiven Deutschland Kants und Hegels, Österreich als Land der Gegenreformation, "der Inbegriff des Obskurantismus". Ego-histoire Ein seltenes intellektuelles Vergnügen, wie Le Rider den Widerstreit dieser beiden Stereotypen bis herauf zur schwarz-blauen Regierung nachzeichnete. Auf ebenbürtigem Niveau der Kommentar des Wiener Historikers Thomas Angerer, der prägnant skizzierte, wie wichtig die Einschätzung fremder Nationen stets für die eigene Identitätsfindung ist. Kürzlich hat Le Rider sein Tagebuch des Jahres 2000 publiziert, seine sehr persönliche Einschätzung der politischen Krise Österreichs. Jene hiesigen Kritiker, die darin manische Selbstüberhebung sahen, haben, so gibt Le Rider zu verstehen, eine Errungenschaft der französischen Wissenschaft verschlafen: die "égo-histoire". Forscher haben von ihrer eigenen Lebensgeschichte, von ihrem eigenen Standort zu berichten, um das Subjektive ihrer Arbeit nachvollziehbar zu machen. Sein Buch habe er publiziert, "um eigene Vorurteile zu klären." Zur Zeit der Sanktionen (die Le Rider insgesamt als "kontraproduktiv" ablehnt) habe er dennoch "nicht verstanden, dass sich in Österreich niemand gefreut zu haben scheint. Ich wäre verletzt, wenn Le Pen zur Regierung käme, und Europa reagiert nicht: Das würde bedeuten, wir sind allein." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 3. 2001)