Berlin - Mit Protestaktionen wollen NS-Opfer und ihre Unterstützer Politik und Wirtschaft zur unverzüglichen Auszahlung der Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiter drängen. Der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte rief am Dienstag zu einer Protestaktion "Fünf nach Zwölf" in Berlin auf. Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass und der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel riefen in der Gewerkschaftszeitung "Metall" dazu auf, sofort mit den Zahlungen zu beginnen. "Die Überlebenden der NS-Zwangsarbeit haben keine Zeit mehr zu verlieren", heißt es in einem von der IG Metall in Frankfurt am Main veröffentlichten Aufruf. Der Opferverband mahnte, dass sich der Beginn der Zahlungen um mindestens vier Monate zu verzögern scheine. In dieser Zeit würden mehr als 24.000 ehemalige Zwangsarbeiter sterben. Dies sei "unerträglich" und eine "Schande für unser Land". Alle Kritiker dieser "Kaltschnäuzigkeit" seien deshalb eingeladen, sich an der Kampagne "Höchste Zeit - Gerechtigkeit für NS-Zwangsarbeiter" zu beteiligen. Eine erste Aktion dieser Kampagne sei die Mahnwache "Fünf nach Zwölf". Dabei soll von Mittwoch 00.00 Uhr bis Donnerstag 00.00 Uhr zwischen Kanzleramt und dem Haus der deutschen Wirtschaft ein "lebendiges Menschennetz der Überlebenden und ihrer Unterstützer gegen die Arroganz von Geld und Macht" gebildet werden. Den Appell für einen raschen Beginn der Entschädigungszahlungen unterzeichneten neben Grass und Zwickel unter anderem die Publizistin Carola Stern, der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnik und der Wissenschaftler Hartmut von Hentig. Sie fordern die Bundestagsfraktionen auf, so rasch wie möglich die für den Beginn der Auszahlung notwendige Rechtssicherheit herzustellen. Zudem appellierten die Unterzeichner an die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, ihre zugesagten fünf Milliarden Mark umgehend an die Bundesstiftung zu überweisen. Grass und Zwickel appellierten an die Abgeordneten, die Entschädigungsgelder auch dann frei zu geben, wenn noch einige juristische Fragen im Bereich der Banken zu klären seien. Ferner hieß es in dem Aufruf, die zusammen getragene Summe erbringe bereits jetzt täglich 400.000 Mark (2,8 Mill. Schilling) Zinsen. Die Spender hätten bereits für das bisher zur Verfügung gestellte Geld im vergangenen Jahr 1,8 Mrd. Mark Steuerersparnisse erzielt. "Geiseln der Nachfolger der Wehrwirtschaftsführer" Wirtschaft und Politik hatten sich verpflichtet, jeweils fünf Milliarden Mark zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter zu zahlen. Der Beginn der Auszahlung hängt aber von der Rechtssicherheit für deutsche Firmen vor Klagen von NS-Opfern ab. Diese muss vom Bundestag festgestellt werden. Die Wirtschaft sieht die Rechtssicherheit bisher noch nicht gewährleistet. Vor einem US-Gericht ist unter anderem noch eine Sammelklage gegen österreichische und deutsche Banken anhängig. Die New Yorker Richterin Shirley Kram hatte es kürzlich zum zweiten Mal abgelehnt, die Klagen abzuweisen. Das Berufungsverfahren soll nun kommenden Montag stattfinden. Wegen des Bestehens auf Rechtssicherheit erhoben ehemalige Zwangsarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Wirtschaft und die Bundesregierung. "Jetzt sind wir die Geiseln der Nachfolger der Wehrwirtschaftsführer", sagte Kurt Goldstein vom Auschwitzkomitee, selbst Überlebender des Konzentrationslagers. "In Wirklichkeit ist es ein schändliches Spiel, das die spielen, um das Problem der Zwangsarbeiter biologisch zu lösen." Er hielt der Wirtschaft vor, sich wegen unterlassener Hilfeleistung an den hochbetagten ehemaligen Zwangsarbeitern einer Straftat schuldig zu machen. Der ehemalige Zwangsarbeiter Salvatore Mario Bertorelli nannte es eine Schande, dass die Betroffenen 56 Jahre nach Kriegsende immer noch auf eine finanzielle Anerkennung ihrer Leiden warteten. "Wieso muss ich heute hier sein?" fragte er. "Hat Deutschland kein Gewissen?" Bundeskanzler Schröder will die Entschädigungsfrage auch bei seinem bevorstehenden Washington-Besuch ansprechen. Schröder trifft Bush am Donnerstag zum ersten Mal. In deutschen Regierungskreisen wurde Dienstag aber betont, dass die US-Regierung derzeit wenig machen könne, um die Entwicklung zu beschleunigen - nicht zuletzt wegen der in den USA gegen deutsche Banken noch anhängigen Sammelklage. (APA/AP/dpa)