Martin Schenk

Der Begriff Sozialstaat beschreibt nicht mehr ökonomische Gegebenheiten - wie die jüngst an dieser Stelle abgebildete Debatte zwischen dem "Föhrenbergkreis" und den Vorsitzenden der wahlwerbenden Parteien zum Thema "Reformdefizite" einmal mehr gezeigt hat -, sondern dient als Chiffre für all jene Lebenspraxen und Haltungen, die den Gesellschafts-Körper "verfetten" und "verweichlichen" könnten. "Indem der Mensch soziabel und Sklave wird, wird er schwach, ängstlich, kriecherisch; und seine weibliche und weibische Lebensweise vollendet schließlich die Schwächung seiner Stärke und seines Mutes", formulierte Rousseau. Unser Körper braucht den Wettkampf, er muss sich härten durch freiwillige Opfer und Verzicht, er muss "entschlacken".

Der "schlanke" Körper ist der ideologische Zustand. "Schlankheit" erscheint nicht als Eigenschaft, sondern als Tätigkeit, als täglicher Kampf, als niemals beendete Disziplinierung. Die Medien zeichnen das Bild einer dynamisierten Gesellschaft flexibler und gehärteter Subjekte. Der Mensch als "einsamer Wolf", der der Welt die Stirn bietet. An die "Verlierer" ergeht die Aufforderung, fair zu bleiben, die Niederlage mit einer Gratulation an den "Gewinner" hinzunehmen. Das Leben ein Sport.

Hungerkünstler

"Es gibt auf jedes komplizierte Problem eine einfache Antwort: es ist die falsche" (Umberto Eco). Z. B.: Einfachsteuer. Oder Flat Tax. Das ist auch die Beschreibung eines ideologischen Zustandes. Der Rückgang des Steueraufkommens bei konstant 23-prozentigem Grenzsteuersatz wäre vorsichtig geschätzt 100 Milliarden S. Wenn das Defizit nicht steigen soll, wo ist das 100 Milliarden-Kürzungspotential: Bei der Bildung? Bei den Sozialausgaben?

"Ich möchte den Staat nicht nur auf eine Diät setzen, ich will ihn in Hunger und Armut treiben", so sagt es Flat Tax Missionar Alvin Rabushka. Diese Steuermodelle haben strategische Funktion. Margret Thatcher begann mit Steuersenkungen, um die soziale Sicherung unter Druck zu bringen. Die Erfahrung der Sparpakete hat gezeigt: Wo keine Interessen organisiert sind, dort wird gespart.

Die Verteilungsstudie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) zeigt, dass sozialstaatliche Leistungen - vor allem über die Ausgabenseite - ins unterste Einkommensdrittel umverteilen. Besonders Notstandshilfe und Arbeitslosengeld fließen nach "unten", kommen also denen, die sie brauchen, am stärksten zu Gute. Vor allem für das unterste Einkommenszehntel ist das Sozialleistungssystem von existentieller Bedeutung. Sozialtransfers machen zwei Drittel des Haushaltseinkommens aus und sichern damit das Überleben.

Ohne das Netz der Sozialtransfers wären 40 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Besonders betroffen sind Langzeitarbeitslose, Alleinerzieherinnen, Zuzwandererfamilien, Alleinverdiener mit mehreren Kindern. Mit den Sozialleistungen reduziert sich die Zahl auf 15 Prozent. Immer noch zu viel, aber immerhin.

Sündenböcke

Lineare Kürzungen treffen aber "treffsicher" alle, ohne eine Schmerzgrenze zu beachten, unter der es nichts mehr zu kürzen gibt. Die meisten Leistungen sind jetzt schon nicht existenzsichernd. Rund 100.000 Männer und 200.000 Frauen würden im Falle der Erwerbslosigkeit Leistungen unter 5.000 Schilling erhalten.

Das Diätprogramm für den gehärteten Körper hat zwei Gaben zu überreichen: Den Reichen Steuersenkungen, den Armen Sündenböcke.

Ideologien des Ausschlusses wirken seit jeher wie Drogen. Hat man davon gekostet, verlangt man nach Steigerung der Dosis.

Nun wurden bereits in den letzten Jahren Finanzerträge gegenüber Produktionsgewinnen und Realinvestitionen begünstigt. Und während die steuerliche Belastung des Faktors Arbeit ständig zunimmt, wurde die Vermögenssteuer trotz einer dynamischen Zunahme der Vermögenswerte abgeschafft. Die Steuerquote bei Kapital, natürlichen Ressourcen und Vermögen ist in Österreich seit 1973 von 18 Prozent auf 9 Prozent gefallen, die Lohnsteuerquote aber von 7 Prozent auf 12 Prozent gestiegen. Ein beachtlicher Teil von Mitteln wurde so dem sozialen Ausgleich entzogen, dafür die Steuerschraube bei Beschäftigten und beim Massenkonsum weiter angezogen. Wir sehen: Einen schlanken Staat können sich nur die Fetten leisten.

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich, Mitbegründer des österreichischen Netzwerks gegen Armut und soziale Ausgrenzung.