Seher geehrter Herr Menasse! Im profil vom 16. Mai schreiben Hubertus Czernin und Christoph Kotanko Folgendes: In den Parteitagspausen machte indes unter Delegierten ein angeblicher Dialog zwischen Heinz Fischer und dem neuen SP-Lenker die Runde:

Fischer (lebhaft): Die SPÖ braucht Visionen.

Vranitzky (kühl): Wer Visionen hat, braucht an Arzt.

Das war die Geburtsstunde eines Satzes, der mir nun schon über mehr als ein Jahrzehnt angehängt wird, ohne dass ich ihn je gesagt habe. Dies obwohl Czernin/Kotanko diesbezüglich gar keine definitive Behauptung aufstellten, sondern vielmehr einer "Angeblich-Geschichte" nachhingen. Im Übrigen würde der Präsident des österreichischen Nationalrats, Dr. Heinz Fischer, jederzeit bestätigen, dass ein von Czernin/Kotanko konjunktivisch formulierter (vermuteter) Dialog des in Rede stehenden Inhalts mit mir nie stattgefunden hat.

Da ich in der politischen und medialen Realverfassung meines Landes diesen Satz "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt" nie los wurde, habe ich mich darauf eingestellt, mit ihm zu leben. Das fiel mir u.a. deshalb nicht besonders schwer, weil sich so manches in all den Jahren als visionär Angebotene im Endeffekt als ganz gewöhnlicher Blödsinn herausstellte.

Allerdings: Viele Jahre nach Erscheinen des Czernin/Kotanko-Artikels im profil schrieb ein Autor in der Presse den Satz über Visionen und Arzt dem früheren deutschen Kanzler Helmut Schmidt zu. Ich stand somit vor einer neuen, mein Seelenleben bewegenden Situation mit mehreren Optionen:

Konnte ich mich bequem zurücklehnen, weil als der eigentliche Visionslose ja nun Helmut Schmidt entlarvt wurde?

Oder - viel schlimmer - müsste ich mir von nun an das Plagiat vorhalten lassen?

Ich entschloss mich naheliegenderweise dazu, Czernin/ Kotanko des Plagiats zu verdächtigen (Musilscher Möglichkeitssinn).

Ob Sie's glauben oder nicht: Die Kette hat noch weitere Glieder. Diesmal betritt Herr Robert Menasse im Weg eines Interviews im STANDARD (13. 9.) die Szene und lässt wieder einmal Vranitzky die Visionäre zum Arzt schicken. Entweder in Unkenntnis der Wahrheit (siehe oben) oder weil durch Recherche ein so gewollter Sager nicht zusammengehaut werden soll.

Im Übrigen und von all dem abgesehen, wundert es mich bei Ihrem Renommee als zeitgeschichtlich kritisch sein Wollender, dass Sie in dem STANDARD-Interview vom 13. September der vulgärsprachlichen Überhöhung bedürfen ("Sie halten die Goschen . . ."). Es spricht auch nicht für die Stärke Ihrer Argumente, wenn Sie sie mit der Dummsprache ("Tschobstschobstschobs") glauben untermauern zu müssen.

Ich bin unverdächtig, aus guten Gründen und gemachten Erfahrungen, Haider nicht mit vollem Misstrauen und totaler Ablehnung als Politiker entgegenzutreten.

Täglich liefert er Anlässe dazu. Unter anderem sagte er, in Kärnten die Landeshauptmann-Funktion für fünf Jahre auszuüben und stellt das jetzt in Frage. Das heißt, er bricht sein Versprechen und lässt sich zur gleichen Zeit plakatieren als einer mit Handschlagqualität. Etliche weitere Beispiele seiner vollkommen verrotteten Grundhaltung zum gegebenen Wort ließen sich hinzufügen.

Wahrscheinlich nehmen es ihm die Leute nicht übel, weil er das nicht einmal verbirgt. So manche Medien sind beseelt vom Wechsel um dessen selber willen. Sie würden ihr eigenes bitteres Erwachen noch mit dem Händereiben über höhere Auflagen feiern, ehe sie zur (zu späten) Besinnung kommen.

Sie sind, Herr Menasse, nicht der einzige Haiderwarner und auch nicht der einzige Populismuswarner. In Ihrer Ablehnung des sich Beugens vor Sachzwängen gebe ich ihnen sogar Recht. Wenn Sie allerdings bei Äquivalenten für Parteien bei "Pest und Cholera" landen, sind sie wieder nichts anderes als der mit Worten agierende Vorstadtschläger.

Schade.

Dr. Franz Vranitzky