Der Erkenntnistheoretiker, Sozialphilosoph und Polemiker Sir Karl Popper (1902-1994) hat in konservativen Kreisen einen zu guten und in progressiverem Umfeld einen zu schlechten Ruf: Von den einen wird er, reduziert auf sein im Krieg verfasstes Pamphlet Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, als Hegel- und Marxvernichter und Vordenker des Neoliberalismus vereinnahmt; ebendiese Festlegung schadet ihm bei anderen. "Ich will keine Freunde des August von Hayek", hatte Bruno Kreisky gesagt. Dabei verfocht Popper - anders als sein Kollege an der London School of Economics - immer den Wohlfahrtsstaat. Eine in vielerlei Hinsicht bahnbrechende Sozialbiographie der ersten Wiener Jahrzehnte Karl Poppers verschiebt Akzente und stellt den jungen Popper in den Kontext des Roten Wien der Zwischenkriegszeit: Malachi Haim Hacohen: Karl Popper. The Formative Years 1902-1945 (Cambridge University Press 2001). Das Buch gehört zu den besten Untersuchungen zur Kultur- und Sozialgeschichte Wiens bis 1938. Es fokussiert originell auf die immer verhinderte Assimilation jüdischen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg und auf sozialistische Kreise nach 1918. Hier eröffnet sich ein neuer Blick auf ein Werk, das sich selbst, schon mit der Logik der Forschung 1934 an, in die Diskussionskultur des "Wiener Kreises" um Moritz Schlick stellte. - Ein Gespräch mit Malachi Hacohen, derzeit Research Fellow am IFK: STANDARD: Sie schreiben von der neoliberalen Reduktion Poppers auf den "Cold Warrior". Was bewegt einen kritischen Intellektuellen, sich intensiv auf Karl Popper Leben einzulassen? Hacohen: Die Tatsache, dass ich es selbst am Beginn so sah, und dass dies nicht stimmt. The open Society ist nicht im Kontext des Kalten Krieges zu lesen, sondern als Verteidigung gegen den Faschismus. Auch wird Marx - im Gegensatz zu Hegel - bei Popper differenziert dargestellt und als Humanist gesehen. Vor allem aber: Popper begann in der Zwischenkriegszeit als ein unorthodoxer Sozialist. Es war das Rote Wien, das ihn prägte. STANDARD: Es ist in Ihrem Buch ein zweifaches Wien, das Sie aufarbeiten: Das um 1900 und das nach 1918. Hacohen: In beiden ist die progressive Intelligenz in der Minderheit. Als mit dem Aufkommen der Massenparteien im Spätliberalismus auch "deutsch" nicht mehr kulturell, sondern rassisch definiert wurde, verloren auch Leute wie Freud und Friedjung einen Teil ihrer Identität. Die suchte Poppers Elterngeneration u.a. in Freimaurerkreisen. Nach 1918 bildet die Sozialdemokratie einen Fokus. Vor 1914 war es die spezifisch österreichische Tradition der Spätaufklärung seit Bolzano, um die herum sich intellektuelle Aufbruchsbewegungen ausbildeten. Auch die intellektuelle Linke hoffte auf die Möglichkeit, einen multikulturellen Staat zu schaffen. Mit dem Krieg war es klar, dass dies keine reale Option war. Aber es blieb eine in der Imagination. Poppers Philosophie mit ihrer Utopie einer offenen "Gelehrtenrepublik" reflektiert den Untergang eines multiethnischen Reiches. STANDARD: Popper, der philosophische Utopien unerbittlich bekämpft, war selbst ein Utopist? Hacohen: Im Sinne der sozialdemokratischen Intellektuellenzirkel. Es war insofern keine Utopie, als die soziale Verbesserung in kleinen Schritten geschah: In der Schulreform, wo Popper mitwirkte, in den Volkshochschulen, im "social engineering". STANDARD: Eine Hauptlinie Ihres Buches: Das Herausarbeiten der kosmopolitischen Ausrichtung von Poppers Umfeld. Hacohen: Ja, ein radikaler Kosmopolitismus, der im Umfeld von Poppers sich schon vor 1914 herausgebildet hatte, die Feindschaft gegen jeden Nationalismus, auch den Zionismus. STANDARD: Eine weitere Hauptthese: Die jüdischen Intellektuellen hätten sich in einem "Dilemma" befunden. Welches? Hacohen: Es ist eine Existenz "dazwischen": Zwischen den Assimilierten (im Sinne von Konvertierten) und den deutsch Akkulturierten. Die Intellektuellen und Liberalen lebten nicht länger in jüdischen Gemeinschaften, sahen sich teilweise sogar als deutsche Aufklärer gegenüber ostjüdischen Zuwanderern, wurden zugleich aber von der deutschen Mehrheit nicht akzeptiert. Der Mangel an politisch-sozialer "community" führte viele von ihnen, auch Popper, zum Entwurf einer kosmopolitischen Gelehrtenrepublik, als eine regulative Idee. STANDARD: Eine aktuelle? Hacohen: Als Regulativ ja: Die Multikulturalität, die österreichische Intellektuelle suchten, verschwindet heute sogar in den begehrten "Colonial Studies" in den USA, wo immer eigene Regionen betont und gegen Assimilierung abgeschottet werden. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe 26./27. 5. 2001)