Carl Djerassi hat mit einer chemischen Formel die moderne Gesellschaft entscheidend mitgeprägt. Auch die jüngsten reproduktionstechnischen Fortschritte - Präimplantations-diagnostik und Embryonenforschung - sind ganz in seinem Sinne. Warum, erklärte er Michael Fleischhacker. Standard: Sie schätzen die Möglichkeiten der neuen Fortpflanzungstechnologien, was ihre gesellschaftlichen Auswirkungen angeht, sehr optimistisch ein. Die Debatten um Embryonenforschung und Eugenikprogramme können daran nichts ändern? Djerassi: Diese Debatten haben etwas mit dem Konservativismus in Deutschland, Österreich und insgesamt in Europa zu tun. Worum es in Wahrheit geht, das ist die Trennung von Sex und Fortpflanzung, das ist das Thema "Sex im Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit". Standard: Sie meinen, die In-vitro-Fertilisation hätte etwas mit Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zu tun? Djerassi: Ja, es ist fast dasselbe: So wie Benjamin meinte, dass im Zeitalter der Reproduzierbarkeit das Objekt der Kunst etwas Neues werden würde, so wird ja auch das Objekt der Reproduktion, das Baby, etwas Neues. Meiner Meinung nach werden in Zukunft fruchtbare Menschen diese Techniken gebrauchen, obwohl sie nur für unfruchtbare entwickelt wurden. Man nimmt an, dass es immer die neuen Technologien sind - die Pille, die In-vitro-Fertilisation, die soziale Veränderungen produzieren. Ich meine, es ist umgekehrt: Die gesellschaftlichen Änderungen erzeugen den Druck für die Entwicklung der Technologien. Standard: Wo ist der Druck am stärksten? Djerassi: Nummer eins: In Europa gibt es nur noch zwei Länder - Albanien und Malta -, wo die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie noch über zwei liegt. Nummer zwei: Wir sind eine geriatrische Gesellschaft, die Leute werden älter und bleiben länger gesund. Wenn Sie sich das zusammen ansehen, ist völlig klar, dass dieses eine Kind, das die Leute noch bekommen sollen, perfekt sein soll. Standard: Und die passende Augenfarbe haben . . . Djerassi: Also bitte. Okay, ich verstehe das historisch - die eugenischen Ideen der Nazis -, aber das ist doch überhaupt kein Thema: Wir haben das Genom entschlüsselt, aber man hat doch überhaupt keine Ahnung, wie man genetisch zum Beispiel Intelligenz steuern könnte. Leute, die Angst haben, dass man das so manipulieren könnte, träumen momentan, und sie träumen noch für Jahrzehnte. Standard: Dann könnten wir unsere Kinder ja weiterhin im Bett erzeugen, nicht im Reagenzglas? Djerassi: Nein, es gibt einen wichtigen Unterschied, und der heißt Präimplantationsdiagnostik. Das ist vor allem wichtig für Frauen, die zuerst ihren Beruf ausüben und erst dann Kinder haben wollen. Bei ihnen besteht ein größeres Risiko, dass sie etwa ein mongoloides Kind haben werden oder eines mit Huntington-Syndrom. Heute wird das in einer Fruchtwasseruntersuchung festgestellt, und es kommt zu einer Abtreibung. Das kann man mit der Präimplantationsdiagnostik bei künstlicher Befruchtung verhindern: Der Embryo wird erst gar nicht eingepflanzt. Man kann auch das Risiko minimieren, indem Ei- und Samenzellen in jungen Jahren konserviert und erst später befruchtet werden. Standard: Damit ist die Eugenik-Tür geöffnet: Wer bestimmt, welches Leben lebenswert ist und welches nicht? Djerassi: Ich bin überzeugt, dass Menschen mit Down-Syndrom-Kindern diese lieben. Aber wenn sie sie ganz ehrlich fragen würden, wenn sie die Wahl gehabt hätten, ein mongoloides Kind zu haben oder ein "normales", dann würden fast alle sagen, sie hätten lieber ein "normales" Kind. Jetzt haben sie diese Wahl, das ist der Unterschied. Standard: Ist für Sie, der Sie 1938 emigrieren mussten, Eugenik nicht ein besonders sensibles Thema? Djerassi: Ich bin sensibel für die historische Komponente und gegenüber der Makroeugenik von Diktatoren und Verrückten. Aber ich muss ehrlich sagen, dass wir die Mikroeugenik, das heißt die persönliche Eugenik, in der Welt immer praktiziert haben und auch praktizieren wollen, das ist die Evolution. Standard: Sie ziehen die gesetzliche Grenze zwischen Mikro- und Makroeugenik? Djerassi: Hier geht es nicht um gesetzliche Fragen, sondern darum, dass es zu einer umfassenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung auf der Höhe der Zeit kommt. Das wichtigste Wort dieses Jahrhunderts ist für mich das Wort "aber". Also: Das ist wunderbar - aber. Oder: Das ist fürchterlich - aber. Es ist eine graue Antwort auf graue Fragen. Standard: Deshalb befürworten Sie auch die verbrauchende Embryonenforschung? Djerassi: Ja, denn ich glaube nicht, dass das menschliche Leben in der Sekunde beginnt, in der das männliche Spermium in das Ei eindringt. Das menschliche Leben beginnt frühestens mit der Einnistung. Mehr als die Hälfte der normal befruchteten Eier, die sich nicht einnisten, wird in der Menstruation verloren. Die Frauen wissen nicht, ob da ein befruchtetes Ei dabei war oder nicht. Jetzt wird man es wissen, das ist der Unterschied. Es gibt derzeit Millionen von Embryonen weltweit, die sonst weggeworfen werden, da hielte ich ein generelles Verbot der Embryonenforschung geradezu für idiotisch. Michael Fleischhacker - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 7.6.2001