1988 verwendete der indische Werbetexter Walter Mendis erstmals jenen Slogan, der inzwischen unverrückbar mit dem Tourismus in Kerala verbunden ist: "God's Own Country". Der westindische Bundesstaat, ein tropischer Streifen zwischen Arabischem Meer und Western Ghats von der Hälfte der Fläche Österreichs, hat tatsächlich etwas von einem Gottesland: Er kann sich der wohl beeindruckendsten Palmenkonzentration Asiens rühmen und besitzt zudem rund 500 Kilometer an der Malabarküste und 44 Flüsse, die sich in einem einzigartigen System von Backwaters verlieren – 900 Kilometer Wasserwege.

Nicht erst seit Kerala vom National Geographic Traveler gemeinsam mit Venedig, der Chinesischen Mauer und Rio de Janeiro zu den "50 places of a lifetime" gezählt wird, oder seit Travel & Leisure das keralische Frühstück als "bestes der Welt" bezeichnete, wird die Region im internationalen Tourismus ganz groß gespielt. Backwatertrips im Hausboot, Rundum-Erneuerung und Verjüngungskur nach ayurvedischen Prinzipien, Kurse in Kalarippayat, der Mutter aller Kampfsportarten, und Aufführungen des klassischen Kathakali-Theaters, vor allem aber die legendäre Ruhe ziehen immer mehr Urlauber an. Der indische Premier Atal Bihari Vajpayee verbringt hier seine Ferien, ebenso wie Richard Gere, Jacques Lang oder Richard von Weizsäcker. Auch die Queen war schon da.

Bekannt sind die Bewohner von Kerala für ihr freundliches Kopfschütteln. Das für Fremde oft verwirrende indische Wiegen des Kopfes – Zeichen für Ja – wird im Kokosparadies (nicht nur Paradies: jährlich werden hier mehr Menschen von stürzenden Kokosnüssen getroffen als von Malariamücken infiziert) zur Perfektion getrieben. Auf den westlichen Besucher macht der Gesprächspartner mit der geschmeidigen Halsmuskulatur, der seine uneingeschränkte Zustimmung zum Ausdruck bringen möchte, einen grausam unentschlossenen Eindruck. Scheiternde Kommunikation ist aber ohnehin ein Lichtblick des Exotischen in jenem Land, in dem grundsätzlich immer doppelt so viel funktioniert wie der Reiseführer androht.

Dabei gibt es wenig außergewöhnliche Hindutempel in Kerala, und, noch schlimmer, überhaupt kein Nachtleben: Teure Alkohollizenzen verhindern eine westliche Abendgestaltung außerhalb der Hotels und ewig schummrigen Bars, an deren Eingang überdimensionierte Schilder in drei Sprachen angebracht sind: "Alcohol consumption is injurious to health." Aber wegen des Kingfisher-Biers kommt keiner nach Indien. Dann schon eher wegen jenes charmanten Flairs der Fremde, das den Reisenden auf dem Subkontinent in allen vorstellbaren Varianten durchdringt – und sich besonders verwirrend und brutal im Straßenverkehr manifestiert.

Die Hauptstadt mit dem eigenwilligen Namen Thiruvananthapuram, nach britischer Lesart auch als Trivandrum bekannt, ein brodelndes Durcheinander von geschätzten 1,2 Millionen Einwohnern, liegt beinahe am Südzipfel Indiens und gibt einen Eindruck davon, was Moloche wie Bombay oder Kalkutta ausmacht. Mit ihrem interessanten Fort gilt die Metropole vergleichsweise als beschaulich – wenn nicht gerade eine Demonstration mit roten Fahnen die MG Road (Bezeichnung für alle Mahatma-Gandhi-Straßen Indiens im Volksmund) lahm legt. Trotzdem hält man den Verkehr zunächst für lebensgefährlich.

Natürlich ist er wirklich lebensgefährlich. Doch er gehorcht den Regeln der Nächstenliebe: ein wildes, britisch-linksseitiges Chaos aus dreirädrigen Autorikschas, klapprigen Zweirädern und Bussen ohne Reifenprofil, die wie Raketen am PC aneinander vorbeizischen. Halb so wild: In letzter Konsequenz ist jeder Verkehrsteilnehmer bereit, jedes Manöver seines Kollegen zu unterstützen, sei es noch so hirnrissig. Hindus glauben an die Wiedergeburt. Abgesehen vom Verkehrssektor ist im indischen Südwesten die Lebensorganisation ganz unindisch: intaktes Gesundheitssystem, wenig Elend bei niedrigen, aber stabilen Löhnen. Die Kommunistische CPI(M) – das (M) steht für die marxistische Abspaltung von der CPI – ist seit 1957 mit kurzen Unterbrechungen und wechselnden Koalitionspartnern an der Macht. Schöpfung des legendären E.M.S. Namboodiripad (1909-1998), ist die CPI(M) als eine demokratisch legitimierte kommunistische Partei in Regierungsverantwortung international eine Rarität. Kein Wunder, war doch diese Ecke Indiens gesellschaftlich immer eigenwillig – so war Kerala einst berühmt für sein matrilineares System, das so genannte "Marumakkathayam", bei dem die Frau den Grundbesitz weitergab.

Kerala ist mit seinen 30 Millionen Einwohnern der dichtest bevölkerte Bundesstaat Indiens. Das Zusammenleben zwischen Hindus (60 Prozent) bzw. Moslems und Christen (je 20 Prozent) verläuft vergleichsweise reibungslos. Hauptsprache ist Malayalam, tamilisch und sanskrit-beeinflusst, 90 Buchstaben; in der Schule werden aber auch Hindi und Englisch unterrichtet. Exportiert werden Trockenfisch, Reis und Cashewnüsse, Lebenselixier der Malabarküste ist jedoch, in allen Verarbeitungsstufen, die Kokosnuss.

Manche meinen ohnehin, der Begriff "Kerala" leite sich von "Kera" ab, der Bezeichnung für Kokosnuss. Jedenfalls befindet sich hier mehr als die Hälfte der indischen Kokosproduktion. Die "Nuss", oder besser einer der größten Samen der Erde, wird vollständig verwertet, von Kokosmilch über Kopra (Ausgangsmaterial für Kokosfett) bis zu den Kokosfasern. Der Palmenstamm liefert Holz für den Hausbau, die zähen Blätter dienen der Seilproduktion. Vor allem aber bildet Kokos die Basis für die gefeierte Kerala-Küche.

Gekocht wird scharf und doch zart, tamilisch und doch indisch, spektakuläre Veg- und Non-Veg-Gerichte mit Reis und Kokosmilch: Sambhar (Dhal-Linsen in vegetarischer Sauce), Avial (Kokosnuss mit Früchten oder Gemüse), Kaalen (Joghurt, Bananen und Chili), oft unter Beigabe dunkelgrüner Karivepilla-Blätter ("Curry leaves"), Ingwer, Zitronengras, Muskatnuss und Tamarinde. Man isst dreimal täglich, denn Kerala pflegt die hohe Kunst des Frühstücks: Aappam, Uppuma, Puttu und alle Arten von Idlis und Dosas (Spezialität: Masala Dosa), teils omelette-artig, teils knödelverwandt, serviert mit scharfen und milden Saucen.