Das Indien des Jahres 2001 ist mehr als das Land, in dem Buddha geboren wurde; mehr als das Land, in dem die Tradition der Gewaltfreiheit im 20. Jahrhundert in Mahatma Gandhi einen politisch wirksamen Propheten hervorgebracht hat; mehr als das Land, das den "alternativ" Gesinnten Europas als Möglichkeit zur Flucht aus einer materiell orientierten Leistungsgesellschaft vor Augen schwebt. Das Indien des Jahres 2001 ist die sechste Atommacht der Erde; eine Macht, die seit der Unabhängigkeit 1947 drei Kriege gegen Pakistan geführt hat - und in Kaschmir ständig an der Schwelle zum Krieg steht; das seinen Nachbarn, zum Beispiel Sri Lanka oder Nepal, oft als bedrohliche Großmacht erscheint. Das Indien des Jahres 2001 ist eine Wirtschaftsmacht, deren Wachstumsraten zwar von China, nicht aber von Europa, Amerika oder Japan übertroffen werden; eine Bildungsgesellschaft, die immer mehr hervorragend ausgebildete Informatik-ExpertInnen in alle Welt exportiert. Dieses Indien verweigert sich der Utopie Gandhis, der sein Land als Antithese zur verstädterten Welt der Industriegesellschaft sehen wollte. Das indische Dorf, es existiert noch - aber die Dynamik der indischen Gesellschaft findet man in der Elektronik-Industrie Bangalores und Hyderabads; in der größten Filmindustrie der Welt - in Mumbai (Bombay) und Chennai (Madras); an den Universitäten Delhis und Kolkatas (Kalkutta). Der Welt größte Demokratie funktioniert auf der Grundlage des Säkularismus. Die Trennung von Religion und Politik haben nicht nur Gandhi und Nehru vertreten, sondern auch Nehrus Konkurrent um die Führung im Nationalkongress - Subhas Chandra Bose. Bose, mit Nehru dem "linken" Flügel des um die Unabhängigkeit ringenden Kongresses zugehörig, war 1938 und 1939 Präsident des Nationalkongresses - doch Gandhi sorgte für Boses Sturz, zu sehr hatte Boses Militanz gegen Gandhis Prinzip der Gewaltfreiheit verstoßen. Aber Bose verschwand nicht aus der Politik. 62 Jahre nach seinem Sturz als Präsident des Nationalkongresses und 56 Jahre nach seinem Tod ist sein Mythos nicht nur in seiner engeren Heimat Bengalen verankert. Bose ist lebendig wie Gandhi, wie Nehru. Wie Nehrus Familie ist auch die Boses in der indischen Politik weiterhin ein Faktor: Derzeit vertritt die Witwe von Boses Neffen einen bengalischen Wahlkreis im Lok Sabha, dem indischen Unterhaus. Bose wird, wie Gandhi und Nehru auch, im Indien des Jahres 2001 für die verschiedensten Zwecke instrumentalisiert. Da kommt es vor, dass die regierende BJP sich auf Bose beruft, um ihre Politik der militärischen Stärke zu rechtfertigen - und dabei vergisst, dass der Hindu-Fundamentalismus, den Teile der BJP vertreten, mit Boses Säkularismus unvereinbar wäre: In der 1943 von Bose in Südostasien aufgebauten "Indian National Army" (INA) wurde ein Regiment von einem Hindu, das zweite von einem Moslem und das dritte von einem Sikh kommandiert - eine Demonstration gegen die Spaltung, die Pakistan hervorgebracht hatte; der sich aber auch die Hindu-Extremisten verschrieben hatten, die 1948 Gandhi ermordeten - wie auch die Sikh-Extremisten, die den Tod Indira Gandhis, 1984, zu verantworten haben. "Netaji is alive" - das war die nach 1945 immer wiederkehrende Meldung in indischen Zeitungen. Dass Bose, von seinen Anhängern ab 1943 "Netaji" (Führer) genannt, im August 1945 wenige Tage nach der Kapitulation Japans bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, das ist mehrfach gesichert. Doch der Mythos verlangte nach einem lebenden Bose, der die Niederlage seiner mit Japan verbündeten INA überlebt hatte und irgendwo nur den Zeitpunkt abwartete, um den Massen Indiens die Erlösung zu bringen - die Erlösung von den Übeln der Teilung und der Armut, der nationalen Schwäche und der Demütigung. Meldungen dieser Art haben erst in den vergangenen Jahren aufgehört. Der hartnäckige Bose-Mythos bestätigt das Bedürfnis nach einem Gegen-Mythos zu dem (historisch vereinfacht) als Einheit wahrgenommenen Paar Gandhi und Nehru. Und Boses Leben, das voll von Dramatik und Geheimnissen war, kommt diesem Bedürfnis entgegen. --> weiter