all lust ist mir verstorben
saturnius mit seiner sensen gar
tut schneiden die rosen wunderbar
steht hinter efeu und grabstein
tut schneiden die rosen wunderbar
eine jede die er am stengel trifft
fällt troffen hin von seinem gift
will sich schier vor efeu bedecken
fällt troffen hin von seinem gift
dem vöglein zerschneid er die flügel
daß es totstürzt am grasichten hügel
will seinen flug ihm nicht lassen
totstürzt am grasichten hügel
die sensen scharf traf die liebste mein
so muß ich von ihr auch geschieden sein
ein mond ist mir worden die sonnen
zerschneid saturn mein fleischern herz
und richt mein sehnsucht himmelwärts
all lust ist mir verstorben
An diesem Gedicht (es ist eines der Treuherzigen Kirchhoflieder aus dem Band Epigrammata & Quatrainen ) scheint so manches schief oder verquer. Das beginnt schon mit dem ersten Vers all lust ist mir verstorben . Lautete er Alle Lust ist mir verstorben , er ließe sich leichter sprechen, geradezu gassenhauerisch selbstsicher und einprägsam, in trochäisch-wuchtigem Auftritt. So aber - denn die ansonsten die beiden Worte verschmelzenden l s verlangen, die Grenze zwischen all und lust durch ein Absetzen zu markieren - stauen sich entweder zwei Hebungen, oder der Vers ist über die Wortgrenzen hinweg zu betonen. Wohl auch deshalb ist dem so, weil jeder Vers des Gedichtes mit einer unbetonten Silbe beginnen soll, um des Metrums, der Regel willen, die merklich werden soll. Doch das anfängliche Stocken zeitigt auch Gewinn: Denn klingt nicht mit all lust auch die Alllust an, die Lust auf das All? Und eben dieser kosmische Anklang setzt sich im zweiten Vers fort ( saturnius mit seiner sensen gar) . Saturnius jedoch mit seiner Sense, der Planet, der für Zeit und Vergänglichkeit steht, dieses barocke Sinnbild, diese Allegorie des rosenschneidenden Todes in einem Gedicht, das in den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben worden ist! Als ob nicht spätestens seit dem jungen Goethe die Personifikationen mit ihren Attributen in der lyrischen Dichtung abgewirtschaftet hätten. Und überdies die Rede von der Rose. - Kaum etwas Abgegriffeneres, Welkeres scheint denkbar in einem Gedicht als die Rose, und schon gar eine, die für die verstorbene Geliebte steht ( die sensen scharf traf die liebste mein ). Überhaupt alle die Versatzstücke, die abgekartete Friedhofszenerie, das Kulissenhafte insgesamt, mit efeu , grabstein , rosen und hügel . Und seltsam verschlissen und unzeitgemäß auch, im zweiten Vers, das Füllwort gar ; noch dazu an exponierter Stelle, am Versende und als Reimwort. Volksliedhaftes wird so evoziert, und mit ihm sich der Reimnot verdankende Reime. Zudem reimt sich gar auf wunderbar , es ist also ein semantisch sinnloser Reim. Das Wort wunderbar jedoch, mit der wie lange ausatmenden letzten Silbe am Ende eines Satzes, klingt ein wenig nach Matthias Claudius ( der weiße Nebel wunderbar ). Dieser wahrhaft treuherzige Volksliedton zieht sich durch das ganze Gedicht: tut schneiden heißt es etwa im dritten Vers, aber auch die Ellisionen troffen , zerschneid , richt , worden und der Diminutiv vöglein , das nachgestellte Pronomen in die liebste mein tragen zu diesem Eindruck bei. Nun stammt das Gedicht aus einem Band aus Pastiche-Gedichten. Und ein Pastiche ist per definitionem Nachahmung eines Vorgegebenen und steht deshalb unter seinem eigenen Gesetz. Doch sind diese Pastiche-Gedichte kennzeichnend für Artmanns Werk insgesamt, kann dieses doch als Erweiterung, ja Universalisierung der Idee des Pastiche verstanden werden. Viele seiner Gedichte reden in fremden und vorgefundenen oder auch in erfundenen Zungen, sind gewissermaßen erfundene Nachahmungen von Gedichten aus möglichen literarischen Welten. Umgekehrt ist das zitierte Gedicht nicht ausschließlich ein Pastiche: Ahmt es auch ein vergangenes literarisches Zeitalter nach, so doch nicht ohne inneren Widerspruch. Denn schief oder quer stehen einige Eigenschaften des Gedichtes nicht nur gegen die Zeit, in der es geschrieben worden ist, sondern auch gegeneinander. So gehört manches in das zwanzigste Jahrhundert, erinnert deutlich an modernistische, ja avantgardistisch-experimentelle Traditionen: die durchgehende Kleinschreibung oder die Abwesenheit von Satzzeichen, aber auch das kalkuliert Repetitive der Kombinatorik, das kunstvolle Abwechseln und raffinierte Ineinandergreifen der Motive und die Wiederkehr bestimmter Verse wirken in diesem Sinne und offenbaren jenes Volksliedhafte als künstlich. Auch das kühne Verb Totstürzen - eine Neubildung aus dem geläufigen zu Tode stürzen - ist wohl im achtzehnten Jahrhundert in einem Gedicht nicht denkbar (überdies ist es nicht reflexiv gebraucht), eher schon im Zusammenhang expressionistischer Lyrik. Im Vers dem vöglein zerschneid er die flügel wiederum wird ein so surreal-fantastisches wie preziöses Moment fühlbar, das in leisem Streit mit dem Volksliedton liegt. (Denn der Tod müsste seine Sense schon ungewöhnlich hoch und treffsicher schwingen, um dem vöglein im Flug die flügel zerschneiden zu können.) Das Gedicht ist also zweifach anachronistisch. Einmal im Verhältnis zu der Zeit, in der es geschrieben worden ist, und zum anderen in sich selbst. Und es ist gerade darin beispielhaft für H. C. Artmanns lyrische Dichtung. Denn eine ihrer wesentlichen Qualitäten beruht auf diesem mehrfachen Anachronismus. - Doch wie kommt das, und was hat es zu bedeuten?
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Ist die Sonne der Poesie untergegangen, dann gehen ihre Monde auf: Gestirne, deren Widerschein sich einer unsichtbaren Lichtquelle verdankt; H. C. Artmanns Poesie ist eine solche indirekte Poesie geborgten Lichts, eine Poesie nach ihrem Untergang. Kaum etwas Wahres ist deshalb an dem Rezeptionsklischee, das Artmanns Werk als das eines letzten Poeten versteht oder gar als insularen Widerstand gegen die moderne, prosaische Welt begreifen will. Artmanns Dichtung lässt, wenigstens in seinen besten Gedichten, nicht auf einen Dichter schließen, der dennoch und in quijoteskem Wahn auf die Poesie als auf ein Absolutes setzt, auf ihre Substanz etwa, ihre metaphysische Erkenntnisfähigkeit; diese Poesie ist keineswegs spät oder gar zu spät gekommen; im Gegenteil ist sie eines der zahlreichen Zeugnisse einer in der Moderne stark wirksamen, ja seit ihren Anfängen epochemachenden Erfahrung: Was einst als poetisch gelten konnte, ob nun unter dem Gesichtspunkt vorbestimmter Vokabularien, poetischer Verfahren oder poesiegeeigneter Motive oder Gegenstände, hatte für die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres Gültigkeit. Die rhetorischen Figuren und Mechanismen, die Regeln und Vorschriften, die Gattungen und Genres, die Vers- und Strophenformen standen noch zur Verfügung, aber sie bedeuteten nichts mehr oder wenigstens nicht mehr das, was sie einmal bedeutet hatten. Diese Erfahrung, deren sprachskeptisches Moment Artmann mit seinen Freunden der Wiener Gruppe teilte, kann - wie auch die Dichtungen von Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener zeigen - zu verschiedenartigen Reaktionen führen. Die spezifische Antwort von Artmanns Dichtung fügt sich in eine Reihe anderer ein und wird im Vergleich und im Verhältnis zu anderen Antworten verständlicher. Ernst Jandls Poesie etwa antwortet auf andere und dennoch vergleichbare Weise, insbesonders in jenen Gedichten, die in einer heruntergekommenen Sprache reden. Auch Jandls Gedichte mögen von der Erfahrung der Verschlissenheit, Missverständlichkeit und Beschädigung der (poetischen) Sprache, ihrer Entfremdung ausgehen. Doch gerade aus dieser Verfassung gewinnt Jandl etwas anderes und dies auf unvorhergesehene Weise (aus: der gelbe hund ): abendglanz

kommen wieder schon weg deren tagen
sein schon wieder der sonnen verschwunden
sein aber noch ein abglanz ein abendglanz
dass ich immer noch sehen ohne den elektrischen lichten
sehen was?
sehen was sehen ich nicht magen tu
aber immer noch mehr gut als schauen in spiegeln
wo den fratzen ich sehen den anspucken ich tu
Aus der Not der Beschädigung entsteht die Möglichkeit neuartiger Konstruktion; Sprachlosigkeit schlägt um in eine neue Sprache, die ihre Gegenstände angemessen darstellen soll. Die Sprache ist wieder Ikone ihres Gegenstandes, sie wird aufs Neue in, Skepsis jedoch außer Kraft gesetzt, auch wenn Gegenstände nur mehr auf bestimmte Weise dargestellt werden können, und vielleicht auch nur mehr bestimmte Gegenstände. Doch dieser zweite Schritt, der Vorgefundenes auf neue Weise zusammenfügt, um darzustellen, unterbleibt in der Poesie Artmanns in hohem Maß. Und so ist in Artmanns Dichtung wenig von der ostentativen und manchmal systematischen Sprachzerlegung und Neuzusammensetzung zu finden, wie ansonsten häufig in den Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts. Selbst in Flaschenposten & Erweiterte Poesie , in jener Sammlung von Gedichten, in der zeitgenössische, ja experimentelle Verfahren angewendet werden, in der frei assoziiert, montiert, gereiht und in erfundenen Sprachen geredet wird, scheint Artmann das (in den Sechzigerjahren) Zeitgemäße seinerseits als längst historisch Gewordenes zu behandeln. Denn auch diese Texte werden anachronistischen Sprüngen ausgeliefert, in denen wiederum die alten Bilder und Motive, heraldische Symbolismen, sakrale und sprachmagische Anklänge wuchern und die modernistischen Züge unter Anführungszeichen zu setzen veranlassen. Ist Artmanns Poesie also das Zeugnis eines lebendigen Verhältnisses zur Tradition, das sogar noch die ihm zeitgenössischen Verfahren erfasst und diese einheitsstiftend auf die überlieferten und vergangenen bezieht? Auch dieses Klischee der Artmann-Rezeption birgt wenig Wahres. Nicht mehr Wahres jedenfalls, als ein im Wortsinne oberflächlicher Begriff von Tradition erlaubt. Denn Tradition haben, das hieße doch eigentlich, mit den und durch die überlieferten Formen und Ästhetiken deren produktive Kräfte aufzuspüren und zu verwandeln. Und dieser Begriff von Tradition setzt Kontinuität und Kommensurabilität, ja eine Tiefenordnung und -entwicklung kultureller Zeiträume voraus. Artmanns Dichtung jedoch ist die implizite Negation eines Kulturbegriffs, der innere Logik oder Entwicklung der Künste annimmt und deshalb erlaubt, Substanz in einer Dialektik von Bewahren und Verwandeln zu erhalten. Denn in Artmanns skeptischer Poesie wird Tradition vor allem auf Formen, ja auf Reize reduziert. Diese Formen, diese Reize werden ausgestellt, sie sind der Mond, der die untergegangene Substanz der poetischen Sonne reflektiert. Doch wie geschickt diese gesuchte Oberflächlichkeit so etwas wie Gehalt oder Tiefe vortäuscht, wie verfänglich und verführerisch sie ist; wie durch sie das immer noch irgendwie vertraute Poetische, so wie es uns überliefert scheint, evoziert wird! Das Wohlfeile, das Heruntergekommene ihrer eigenen Mittel verbirgt Artmanns Poesie, wenn auch nicht gänzlich (sonst wäre sie nur epigonal oder auch nur Parodie) , sondern in so feinfühliger wie aufspürbarer Weise. So wird in dieser Poesie eine subtile Subversion in Szene gesetzt. Man wird verführt, auf dass man die Zeichen der Zeit (des poetischen Zeitalters) erkenne; im besten Fall wird man dazu gebracht, die Naivität der eigenen Wirklichkeits-oder Welterfahrung zu begreifen: das Trugbild einer Erfahrung, die eigentlich keine mehr sei. Nein, Artmanns Gedichte haben eigentlich keinen Gegenstand, oder wenn doch, dann nur den, keinen haben zu können; aber keine Verzweiflung darüber wird fühlbar, kein Drama wird daraus gemacht, und auch kein geheimnisumwitterter Ernst. Der Inhalt dieser Poesie ist ihre Form und die Tatsache, dass dem so sei; und dennoch ist da nichts vom Hautgout eines Ästhetizismus à la Huysmans oder George, nichts vom Eingeweihtenstolz auf raffinierte, der Menge unzugängliche artistische Genüsse. Artmanns Verse sind vor allem leichtsinnige Kratzfüße, Verbeugungen oder Handküsse; hier wird durch Blumen gesprochen, doch was durch Blumen spricht, das, worum hier poetische Kränze geflochten werden, das ist so viel, so wenig wie nichts; ein Austausch graziöser Höflichkeiten (doch ohne Hof) oder von Grobheiten und Deftigkeiten (ohne Ziel und Zweck jedoch; sich selbst überlassen), von Posen aller Art (die einander in den Arm fallen oder auf den Arm nehmen), von Floskeln und Formeln, die, wie subtil verschleiert auch immer, fühlen lassen, dass sie Floskeln und Formeln sind. Diese Poesie prätendiert auf das Hohe, ja manchmal auf ihre Hoheit, auf ihr königliches Amt, doch pocht sie zugleich schön verstimmt auf dessen Hohlheit; sie überlässt sich dem Niedrigen oder Trivialen, enthebt dieses aber es aller sozialer Schwerkräfte. Denn mit nichts unter ihrer Sonne, das heißt, unter ihrem Mond, soll da Sinn-Staat zu machen sein. Es soll ja überhaupt nichts dahinter sein, keine Welt hinter den tausend Buchstaben, hinter ihrem zierlichen und anmutigen Selbstvergnügen, ihrem zeremoniellen Tanz. Und worin bestünde dann der Wert dieser Dichtung? Zum einen darin, dass ihre Leere - die diejenige aller Welt sein soll und also auch die der Poesie - so anmutsvoll, so glänzend arrangiert ist, dass dieses Nichtige wie von selbst unausweichlich und universell zu werden scheint, evident und ubiquitär. Und zum anderen darin, dass diese Leere geradezu begehrenswert wird; nie schien das Sinnlose und Substanzlose verführerischer, ja köstlicher; nie hat eine Dichtung sich selbst und damit auch uns souveräner und heiterer der Leere anheim gegeben. Nirgendwo sonst ist das Nichts ein frischer Wind, der all das zu versprechen scheint, was die Worte nicht halten wollen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. 6. 2001)