Rudolf Burger

Am 27. August 1986 - zwei Monate nach der Verteidigung von Franz Vranitzky als Bundeskanzler - war ich mit Frau Gössler-Leirer-Karlson, einer SPÖ-Politikerin des linken Flügels, die ich noch aus den 70er Jahren flüchtig kannte, im Café Landtmann zu einer Besprechung verabredet. Das Treffen war auf ihren Wunsch zustande gekommen.

Frau Gössler eröffnete mir, dass sie im Auftrag von Heinz Fischer damit befasst sei, eine Arbeitsgruppe zu organisieren, die gegen den zu erwartenden "pragmatischen" Kurs der Vranitzky-Regierung "linke Visionen" entwickeln solle und lud mich ein, an diesen Aktivitäten teilzunehmen. Ich lehnte ab mit der Begründung, dass mir der Musilsche "Möglichkeitssinn" der nicht enden wollenden Kreisky-Ära, deren realpolitische Konsequenzen, insbesondere in der Außenpolitik, ich für verheerend hielt, langsam auf die Nerven gehe und dass mir der Vranitzkysche "Wirklichkeitssinn" als eine längst überfällige rationalistische Erfrischung erschiene.

Nichts, so sagte ich ungefähr, ist hier so billig wie der "Geist", nichts so wohlfeil wie die "Phantasie", nicht umsonst sind wir das Land der Künstler und der ewig jungen Jungdichter voller Visionen, die zwar kein Gewissen haben, aber eines sind; und nichts ist hier so selten wie ein klarer Gedanke und der Sinn für Proportionen - das war lange, bevor man Menasse für einen Denker hielt.

Und dann sagt ich noch: Wenn sie eine Analyse wolle, so würde ich mich umsonst bemühen, wenn ich aber Visionen hätte, so ginge ich zum Arzt. Damit war unser Gespräch beendet und wir sahen einander nie wieder.

Aber wie jedes in einem Café vertraulich gesprochene Wort machte das Apercu sofort die Runde, ein paar Tage später schon wurde es, weil es ihm schaden konnte, Vranitzky zugeschrieben, der seine Urheberschaft beharrlich dementierte. Erfolglos, wie sich zeigen sollte: Zwei Jahre später, am 16. Mai 1988, brachte es das profil in leicht veränderter Fassung als Teil eine gerüchteweisen kolportierten Zwiegesprächs zwischen Fischer und Vranitzky. Auch neuerliche Dementis halfen nichts, das Wort: "Wenn ich Visionen habe, gehe ich zum Arzt" klebte unablösbar an Vranitzky und begleitete ihn denunziativ während seiner gesamten Zeit als Kanzler.

Es blieb dem hypermoralischen Mahner Menasse vorbehalten, gegen sein besseres Wissen dafür zu sorgen, dass es ihm auch weiter angelastet wird: In einer Würdigung Vranitzkys nach dessen Rücktritt deckte ich, nach zahllosen mündlichen Versuchen, schriftlich die Entstehung des Wortes auf, reklamierte seine Urheberschaft und schilderte seine Karriere als Denunzuiationsformel für die angebliche Phantasielosigkeit des ehemaligen Regierungschefs. Der Artikel erschien im Falter 4/97 neben weiteren politischen Nachrufen von Franz Schuh, Konrad Paul Liessmann, Josef Haslinger - und Robert Menasse, der unter dem heroischen Titel "Ich habe das überlebt" seinen künstlerischen Leidensweg unter der Sozialdemokratie schilderte. Der belesene politische Autor muss also meinen Text, der nur zwei Seiten vor dem seinen stand, gekannt haben - damit aber auch die Falschheit des Gerüchts, das er weiter verbreitet. Also lügt er.

Dass er dann noch Klima und Haider in entscheidenden Dimensionen in eins setzt, passt ins Bild, das dieser Autor seit Jahren von sich liefert. "Radical chic" hat Tom Wolfe diese Attitüde genannt.

Ich glaube nicht, dass Vranitzky recht hat, wenn er Menasse einen "mit Worten agierenden Vorstadtschläger" nennt. Das ist in der strengen proletarischen Hierarchie entschieden zu hoch gegriffen.

Rudolf Burger ist Philosoph und Rektor der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Anm. d. Red.: Robert Menasse gab auf Anfrage bekannt, dass er damals, als Burgers politische Würdigung erschien, gerade in New York lebte und sie daher nicht kannte. Grundsätzlich fände er es aber bedauerlich, "wenn gerade in der gegenwärtigen Situation der Austausch politischer Argumente ersetzt würde durch Urheberdebatten im Hinblick auf ein politisches Aper¸cu".

* Vgl. Interview mit Robert Menasse (13. 9.) und Antwort von Franz Vranitzky (18. 9.)