Georg Herrnstadt

Landesrat Ackerl soll nach Bekanntwerden der skadalösen Zustände in oberösterreichischen Spitälern gesagt haben "Wer heutzutage noch zum Arzt geht, braucht Visionen". Oder sagte es Werner Vogt? Oder beide? Oder keiner von beiden?

Wahr ist: Es ist nur die Verballhornung eines Satzes von Vranitzky, den dieser angeblich wirklich nicht gesagt hat, wie wir seit vergangenen Samstag von ihm selber wissen ("Variationen über Visionen", STANDARD, 18. 9.). Von Vranitzky stammt der Spruch "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt" nicht. Und von Helmut Schmidt auch nicht. Ich bin enttäuscht, denn dieser Sager hat zu beiden gut gepasst, und er passt zu fast allen Politikern der SPÖ. Jeder könnte ihn gesagt haben, oder gedacht. Ein Stück echter, wirklicher Vranitzky ist für mich nun verschwunden.

In Wahrheit hat Vranitzky diesen Satz nicht gesagt, aber: hat er ihn nicht wirklich gesagt? Klingt paradox und erinnert an die klassiche Aussage von Hans Moser: "Nur wenn eine Geschichte gut erfunden ist, ist sie auch wirklich wahr und hat sich auch wirklich zugetragen" (Wir können Hans Moser leider nicht mehr fragen, ob er das wirklich gesagt hat, jedenfalls war sein Satz nicht nur als Witz gedacht, sondern brachte das Naturalismus-Realismsus-Problem des Theaters in einer sehr griffigen Form auf den Punkt).

Wie ist das also nun mit wahr und wirklich?

Wahr ist eine Sache, wenn sie geglaubt wird: Wahrheit leitet sich vom indogermanischen "wer" ab: Vertrauen, Treue, Zustimmung, oder altkirchenslawisch "vera": Glaube, Vertrauen (wenn man dem ethymologischen Wörterbuch trauen darf). Ein wahrer Sachverhalt steht für sich selbst, die Beschäftigung mit Wahrheit fokussiert den Tatbestand, ist statisch.

Wirklichkeit hat mit "wirken" zu tun, ist dynamisch, deutet auf Beziehungen zwischen mehreren Dingen hin, auf Zusammenhänge und Wirkungen.

Die sozialdemokratische Politik in ihrer Wirklichkeit beweist den fraglichen Satz, unabhängig davon, ob er nun tatsächlich ausgesprochen wurde oder nicht.

Nun kann es scheinen, als wäre das ein Streit um des Kaisers Satz, oder als ginge es um Franz Vranitzky (dessen Brief an Robert Menasse ich im übrigen witzig und gelungen fand). Tatsächlich geht es mir darum, die Aufmerksamkeit auf obbeschriebene Differenz zu lenken:

In Wahrheit sagt die ÖVP: "Der Jugend eine Chance, statt Freigabe von Drogen". In Wirklichkeit sagt die ÖVP: Alle, die aus guten Gründen und nach reiflicher Überlegung für die Entkriminalisierung der Drogenszene sind, wollen der Jugend die Chancen rauben. In Wahrheit sagt die ÖVP: "Karenzgeld für alle Mütter". In Wirklichkeit sagt sie: Männer sollen nicht in Karenz gehen.

In Wahrheit sagt die FPÖ: "Haider und Prinzhorn, zwei echte Österreicher", und "Keine Gnade für Drogendealer" und und und ...

Und was die FPÖ in Wirklichkeit sagt, denkt vielleicht schon jeder dritte Österreicher. Die Wahl am 3. Oktober wird die Wahrheit ans Licht bringen. Ob die Wirklichkeit der SPÖ damit etwas zu tun hat?

Vielleicht hat Robert Menasse in W... das gemeint.

Georg Herrnstadt, Mitglied der Gruppe "Schmetterlinge", ist Komponist, Regisseur und Organisationsberater in Wien.