Karl Kraus machte einen Fehler: "Nur, weil mein Leben so wenig eine Familienangelegenheit sein sollte, wie es mein Leben sein musste, bitte ich meine Verwandten, meiner Bestattung fernzubleiben", verfügte er und ließ für seine Person den Tod aus: zweimal "Leben" wenigstens, und doch noch um fünf Leben weniger, als Katzen zugeschrieben wird. Robert Hochner hatte leider nur ein einziges Leben; und auch das ging eben zu Ende. Ich kannte ihn, als er ein Kind war, seine Eltern luden mich ein- oder zweimal zum Abendessen ein, Parkring: Er war ein rasches, dünnes Kind, höflich, aber doch deutlich bereit, dem damaligen Jetset zu entkommen. Er blickte - wie zuletzt noch nach seinen Fernsehansagen, die in nichts den üblichen Ansagen des ORF ähnlich waren - mit einem raschen, ironischen Blick in die Runde, riskierte eine Glosse zum Thema oder zur schon damals überwältigenden Nichtigkeit. Falsche Gewichtung In England sind bis heute in den höheren Schulen zweitwichtigste Fächer ziemlich breit gestreut. Wer Lust hat, versucht es mit Blumenmalerei oder mit Ornithologie. Die Auswahl der ORF-Nachrichten bringt aber kaum etwas Abseitiges. Ähnlich wie bei den Aussprüchen von George W. Bush ist das meiste kaum mehr eine Parodie wert, weil es selbst schon dazu erstarrt. Die Fragen der strengen, oft teuer und nicht immer sehr gut frisierten Ansagerinnen nehmen fünf Sechstel der knappen, aber rund um die Uhr laufenden Sendezeit in Anspruch. Für die eventuelle Nachricht aber über eventuell neue, entscheidende Medikamente bleiben dann weniger als fünfundzwanzig Sekunden. Die Bilder haben längst laufen gelernt, aber sie wissen nicht mehr, wie sie anhalten sollen. Robert Hochner beginnt jetzt schon zu fehlen, seine verschwiegene Leichtigkeit, die Souveränität, sein stiller Blick. "Der Tod desavouiert unseren Kram", las ich eben in im Perlen-Reihe-Band Berühmte Gräber Wiens. Wie sah der Kram der Fünfzigerjahre aus? Auch in den Kramläden von damals musste man extrem gefragt, immer für die Abende vergeben sein. Robert Hochner schien damals als Kind nur wenig gelangweilt, eher eine Spur desinteressiert. Er wirkte nicht verlassen, aber doch in einem Zwischenzustand. Wiener Salon 1950 "Das kann nicht gut gehen", erklärten die linkskatholischen Jaspers-Anhänger bei den abendlichen Teegesprächen auf einer Terrasse über dem Modenapark: "Der kleine Hochner, der jeden Geburtstag drei Tage lang feiert, mit neuen Kerzen, neuen Geschenken und nicht vielen, aber gleichaltrigen Freunden." - Sie haben sich, wie oft, getäuscht. "Geburt und Ketten sind Synonyme. Das Licht erblicken, die Handschellen erblicken", notierte E. M. Cioran. Robert Hochner empfand hoffentlich eher spät die Unentrinnbarkeit der Existenz. Soweit ich mich erinnere, hatte er keine Definitionszwänge, aber doch vielleicht etwas mehr als die üblichen kindlichen und spätkindlichen Zersplitterungen. Psychotherapien kamen damals in Mode. Ich war damals im Kreis, den Bobby Euler um sich gebildet hatte, noch sehr jung, wusste kaum, wer Siegfried Melchinger war, der an einigen Abenden auftauchte und sich offenbar wohl fühlte, das längere Licht an den Abenden gern hatte, den gemeinsamen Code, das seltene Erlöschen der Konversation. Als ich 1951 nach Frankfurt kam und Bobbys ("Bobbelen" wurde sie in der hessischen Landessprache als kleines Kind gerufen) Eltern in Königstein besuchte, fühlte ich mich so fremd, wie ich wollte, sah ihren Vater sorgfältig die kurze Pfeife austauschen und dachte nicht an Bedrohung. Die kam in Wien, und sie kam nicht für mich. An einem hübschen Abend bei "von Liebls" (Bobby hatte inzwischen Zeno von Liebl - "österreichsicher Militäradel", wie Hilde Spiel respektvoll anmerkte - geheiratet) fand ich sie in sich gekehrt und nachdenklicher als sonst. Ich brach rasch auf, Zeno begleitete mich die Jacquingasse hinauf: "Ich bringe sie morgen in die Klinik", sagte er. "Zahnklinik?", fragte ich. "Nein." - "Es wird nichts zu machen sein", sagte er nach der rumänischen Botschaft. Und es war nichts zu machen als die üblichen medizinischen Glättungsversuche. Was hieß "Lateralsklerose"? Absurde Todesarten Er brachte sie heim, und sie starb an einer raschen Grippe. Sie sah auf ihrem Bett kindlicher und weniger sicher aus. Aber wie ging es mit Robert Hochner? Für ihn blieb, schrieb Clarissa Stadler, der Rettungswagen stehen, damit er zu seinem letzten Luxus kam: Herald Tribune. Sicher war Robert Hochner körperlich reduziert, aber nicht auf den Zustand eines "lächerlichen Vulkans", wie Cioran über Sterbende schreibt. Nur die notwendigen Lappalien. Ich wünsche mir, dass ihm seine langen Geburtstagsfeste noch immer den Rücken stärken, dass die Gegend zwischen Parkring und Modenapark ihn mögliche neue Hürden leicht überspringen lässt. Und dass ich, wie damals, noch einmal "bei Hochners" anläuten werde. Morgen werde ich versuchen, ein Kaffeehaus am Parkring zu finden. Ilse Aichinger - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 15.06.2001