Was bisher geschah: Der Schriftsteller Robert Menasse thematisierte in einem Interview (STANDARD, 13. 9.) das angebliche Vranitzky-Zitat "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt"; der Ex-Kanzler dementierte die Urheberschaft (18.9.); der Philosoph Rudolf Burger reklamierte sie für sich (20.9.).

Darf ich jetzt auch einmal etwas zum Streit um Vranitzky & Visionen sagen, der nicht nur den ehemaligen Bundeskanzler sondern auch Schriftsteller und Philosophen, Dozenten und Professoren beschäftigt, als hänge von diesem - zehn Tage vor der Wendewahl - Wohl und Wehe der Republik ab? Immerhin war ich es, der diesen Satz vor elf Jahren zu Papier gebracht hat, als einfacher Chronist eines Parteitages der SPÖ.

Daher eine Klarstellung, die weiß-nicht-wie-vielte, in der Hoffnung, dass sich der Philosoph nicht wegen des Arztes vom Schriftsteller abgewendet hat, und einigermaßen verstört, dass dieser eine Satz so große Geister nach wie vor bewegen kann. Aber oft ist es bekanntlich ein einziger Gedanke, der Generationen von Philosophen beschäftigen kann.

Noch eine kurze Vorbemerkung, bei allem Respekt für Rudolf Burger: Ich gebe zu, auch ich habe vergessen, dass er schon einmal seine Version des Ursprungs des Visionen-Zitates publiziert hat, obwohl ich diesen, seinen Beitrag im Falter lange Zeit erinnerlich hatte, da er eine Wende in Burgers Analyse der Vranitzkyschen Politik darstellt (und er mich bald danach für den "Haider-Macher" ordentlich geprügelt hat): erst mit dem Nachruf wurde er bekanntlich zum Apologeten. Deshalb kann man sich aber nicht jeden Satz Burgers merken. Was also war?

Frühjahr 1988: SPÖ-Parteitag im Konzerthaus. Unsichere Stimmung, Sorge mancher Genossen vor der Entideologisierung der Partei durch den neuen pragmatischen Vorsitzenden. Ich (profil-Redakteur) auf dem Juche des Konzerthauses im Gespräch mit einem Mitglied des SPÖ-Vorstandes. Analyse der Lage, Diskussion der Einschätzung, was Vranitzkys Wahl bedeuten könnte. SPÖ-Vorstandsmitglied schildert nebenbei, was ihm Heinz Fischer zur Debatte über den Kurs des neuen Vorsitzenden erzählt habe. Das bekannte Zitat fällt. Er lacht, ich lache. Ich erzähle Christoph Kotanko davon, der mit mir über den Parteitag berichten soll. Nach Ende des Parteitages und weiterführenden Recherchegesprächen schreiben Kotanko und ich den Text.

Zum Schluss heißt es. "In den Parteitagspausen machte indes unter Delegierten ein angeblicher Dialog zwischen Heinz Fischer und dem SP-Lenker die Runde. Fischer (lebhaft): 'Die SPÖ braucht Visionen.'. Vranitzky (kühl): 'Wer Visionen hat, braucht an Arzt.'"

Das war's, mehr nicht. Eine Schlusspointe zu einem Bericht, in dem versucht worden ist, die - ideologischen - Konsequenzen von Vranitzkys Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden zu analysieren und zu beschreiben.

Am Tag nach der profil-Veröffentlichung, im berühmten Ministerratsfoyer, wurde der Kanzler-Vorsitzende mit dem Zitat konfrontiert. Wörtlich sagte Vranitzky: "Es war nicht annähernd so, ich habe es aber bei der Lektüre auch köstlich gefunden." Und: "Euphorien treten, medizinisch gesehen, erst knapp vor dem Tod auf. Und Visionen sind vielfach das, was Lacina heute bezahlen muss."

Damit hatte Vranitzky den von uns als "angeblich" ausgewiesenen Dialog mit Fischer zwar nicht dem Wort nach, aber inhaltlich bestätigt. Er stellte sich bewusst (und daran ist auch nichts verwerflich) in einen programmatischen Gegensatz zur Ära Kreisky, die ja erst mit dem Abtritt von Fred Sinowatz zu Ende gegangen war.

Das ist die Geschichte von den Visionen und dem Arzt. Ob Rudolf Burger ungewollter Souffleur war, entzieht sich meiner Kenntnis, ich bezweifle es aber. Dass er es aber sein will, ist, gelinde gesagt, amüsant. Ich habe auch Heinz Fischer nie danach gefragt, ob das, was mir sein Genosse seinerzeit erzählt hat, der Wahrheit entsprach. Nur jenen, der mir den Dialog hinterbracht hat, habe ich zur Jahreswende 1996/97 angerufen (damals schrieb ich am "Haider-Macher"), ob das wirklich alles so war, wie wir es seinerzeit im profil aufgrund seiner Angaben berichtet haben. Er blieb dabei, und wir beide haben gelacht.

Vranitzky wird weiterhin mit diesem Satz leben müssen, Kotanko und ich auch. Und in einigen Jahren wird es an der philosophischen Fakultät ein Seminar geben zum Thema: Wer Visionen hat, braucht an Arzt - Bruchlinien in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie: Die Ära Vranitzky.
Hubertus Czernin ist Verleger und STANDARD-Autor. Von 1984 bis 1996 war er beim "profil".