In den letzten Tagen war im Zuge der Debatte um Peter Sloterdijks Thesen zur Anthropotechnik viel vom "Alarmismus" im Feuilleton die Rede, von einer "Erregungskultur", die Thesen und Gedanken nicht auf ihre Triftigkeit untersucht, sondern allein darauf abklopft, ob sich daraus ein politischer Skandal ableiten lässt. Am leichtesten geschieht dies bekanntlich, wenn man irgendwie Faschismusverdacht anmelden kann. Überall, so hat man den Eindruck, sitzen zur Zeit die Wächter, um beim ersten Anzeichen einer verdachtfähigen Formulierung Alarm zu schlagen - so auch beim Philosophicum Lech, in Gestalt des STANDARD-Reporters.

Dass Rainer Metzger, die schönen Tage in Lech sichtlich genießend, den Vorträgen und Diskussionen nur mit halbem Ohre lauschte, sei ihm unbenommen; dass aus dieser Hälftigkeit Verdachtsmomente konstruiert werden, durch die Vortragenden Ungeheuerlichkeiten angesonnen werden, die sie nie gesagt haben, muss dagegen beeinsprucht werden. Was war geschehen?

Der renommierte Altphilologe Manfred Fuhrmann illustrierte in einem Diskussionsbeitrag die These des französischen Philosophen Rémi Brague, wonach sich die europäische Moderne gegenüber ihrer kulturellen Vergangenheit "parasitär" verhalte, durch zwei Beispiele: das evangelische Pfarrhaus und die Emanzipation des Judentums. Und Rainer Metzger schreibt im STANDARD (22. 9.): "Ganz nah wuchsen da zwei Begriffe zusammen, die für einen Deutschen das Jahrgangs 1925 vielleicht zusammengehören, 'Parasitismus' nämlich und 'Judentum'. Niemand widersprach." - Und schon stehen alle unter Verdacht: Brague, der den Parasiten ins Spiel gebracht hatte, Fuhrmann, Deutscher (!) eines bestimmten Jahrgangs, der offenbar eine menschenverachtende biologistische Metapher aus der NS-Zeit angedacht hatte, und das Publikum, das wieder einmal geschwiegen hatte. Wer in solchen Dingen aber schweigt, macht sich, wir wissen es, mitschuldig.

Fuhrmann aber hatte schlicht das Gegenteil von dem gesagt, was Metzger ihm unterstellt. So wie die Moderne in Deutschland von der geistigen Energie des protestantischen Pfarrhauses zehrte - zwei, drei Generationen deutscher Dichter und Denker stammten aus Pfarrersfamilien, von Hölderlin bis Nietzsche -, so zehrte die aufklärerische Moderne auch von der Kraft des sich emanzipierenden Judentums, das seinerseits die Energien seiner Tradition freisetzen konnte: Mendelssohn, Marx, Heine, Freud, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Moderne verhielt sich also parasitär gegenüber dem Judentum, lebte von dessen Geist, nicht umgekehrt, wie Metzger suggeriert. Eine kleine Verdrehung? Nicht weiter schlimm. Man wird ja wohl noch verdächtigen dürfen. Oder?

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und Leiter des "Philosophicum Lech".