Eugen Kogon, der selbst von 1936 bis 1945 im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert gewesen war, kam in der ersten Nummer der von ihm mitbegründeten Frankfurter Hefte (April 1946) zu folgendem Urteil:

"Noch während es halb betäubt um die erste Besinnung rang, stürzte ein Chor von anklagenden Stimmen des Abscheus und der Erbitterung über das deutsche Volk her. Es bekam nichts anderes zu hören als den tausendfachen Schrei: Ihr, ihr allein seid schuld! Ihr Deutschen seid schuldig! Da verwirrte sich das Herz des Volkes, in vielen verhärtete es sich. Wegen des argen Geschreis um sie und wegen der eigenen Blindheit wollten sie vom Insichgehen nichts mehr hören. Die Stimme des Gewissens ist nicht wach geworden ... Die Kräfte der Besinnung im Deutschtum zu wecken, war die Aufgabe einer weitreichenden Realpolitik der Alliierten. Sie fasste sie in dem Programm der ,re-education' zusammen. Und sie wurde eingeleitet durch die ,These von der deutschen Kollektivschuld'. Der Anklage-,Schock', dass sie alle mitschuldig seien, sollte die Deutschen zur Erkenntnis der wahren Ursachen ihrer Niederlage bringen. Man kann heute, fast ein Jahr nach Verkündigung der These, nur sagen, dass sie ihren Zweck verfehlt hat ... Die ,Schock'-Pädagogik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Fiasko."

Seither ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, neue Generationen sind herangewachsen, die mit dem Geschehen von damals absolut nichts mehr zu tun haben. Wenn die älteren unter den Nachgeborenen noch drückende politische Erinnerungen haben, dann solche an die Zeit des Kalten Krieges, den sie als Kinder und Jugendliche unter akuter atomarer Bedrohung durchlebten. Aber auch diese Zeit ist vorbei und sagt den Jüngeren emotional nichts mehr.

Selbst der Kalte Krieg ist heute schon weitgehend vergessen, mit all seinen Krisen und Peripetien, in denen buchstäblich die Existenz der Gattung auf dem Spiel stand. Wer weiß heute noch, dass damals "Megadeath" eine strategische Maßeinheit war und "Bonus kill" ein Effizienzkriterium – und da redet man von "Verdrängung der Nazizeit"?

Tatsächlich gehören die Nachfolgestaaten des Dritten Reichs heute zu den historisch aufgeklärtesten und politisch stabilsten Demokratien Europas. Das Fiasko, das Kogon 1946 beklagte, war also nur das einer naiven Pädagogik, real war es keines, der "Wiederaufbau" war nicht, wie lange und von vielen befürchtet, der Ersatz für "Vergangenheitsbewältigung", sondern diese selber. Eine andere war und ist praktisch auch nicht möglich, Völker haben kein Gewissen.

Und sie haben deshalb keines, weil man von ihnen als Subjekten nur tel quasi reden kann und es daher kein kollektives "Über-Ich" und kein "kollektives Unbewusstsein" gibt, an denen die Rede von einem kollektiven Schock oder von einer Kollektivschuld hängt, die in einem tiefenpsychologischen Sinn "aufgearbeitet" werden könnten. Selbstverständlich wurde die Nazizeit "aufgearbeitet" im historiographischen Sinn, intensiver und kritischer wohl als jede andere Epoche der Geschichte, aber mit einem kathartischen Prozess kollektiver Schuldverarbeitung, die nach bald sechzig Jahren ohnehin Züge einer "unendlichen Analyse" (Freud) trüge, hat das gar nichts zu tun. Historiographische Desiderata freilich gibt es immer, auch aus der Geschichte der Punischen Kriege.

Vergangenheitsbewältigung" im sozialpsychologischen Sinn ist ein empirisch leerer Begriff, das gilt für politische Kollektive allgemein, und also auch für Österreich, wo der Vorwurf ihres Ausbleibens heute noch lauter erhoben wird als in Deutschland, das zumindest in diesem Punkt hierzulande als Vorbild hingestellt wird; und es gilt unabhängig davon, wie man die Frage des "Anschlusses" beurteilt.

Aus politischen Gründen blieb Österreich der Vorwurf einer Kollektivschuld erspart, doch ist aus den gleichen Gründen die österreichische Vergangenheitspolitik komplexer und enthält eine ironische Pointe: Hier wurde die Geschichte, entgegen dem üblichen Klischee, nicht einmal in einem rhetorisch-plakativen Sinn "verdrängt", sondern sie wurde legitimatorisch benützt!

Und das ist auch durchaus verständlich, denn es war schließlich die vordringlichste Aufgabe der politischen Eliten nach 1945, eine spezifisch österreichische Identitätsgeschichte in Differenz zur deutschen historiographisch überhaupt erst zu schaffen und den Glauben an sie massenpädagogisch durchzusetzen; eine auf den Staat bezogene historische Gemeinschaftsideologie und damit eine österreichische Nation als "kollektives Bewusstsein" theoretisch zu formieren, das sich erst nach der Annexion und während des Krieges emotiv gebildet hat.

Weit davon entfernt, verschwiegen oder "verdrängt" worden zu sein, wurden ganz im Gegenteil die Nazizeit und ihre Verbrechen in den ersten Jahren der Zweiten Republik von offizieller Seite massiv thematisiert, um durch deren politische und moralische Negation eine Staatsnation zu konstituieren, die vor 1938 im Bewusstsein der Bevölkerung noch gar nicht existiert hatte. Was es allerdings gab, war eine überproportionale Zahl von Nazitätern, die aber wurden in den frühen Jahren der Zweiten Republik, deren erste Regierung zu zwei Dritteln aus ehemaligen KZ-Häftlingen bestand, auch massiv verfolgt.

Hier fehlt also schon der nationalideologische Ansatzpunkt für eine Kollektivschuldthese, deren theoretische Legitimation bezeichnenderweise von C. G. Jung, also von einem Autor stammt, dessen völkische Tiefenpsychologie ihn 1934 über das "kostbare Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch-ahnungsvollen Seelengrund" hatte schwafeln lassen.

Als das Blatt sich gewendet hatte und nach 1945 dieses "kostbare Geheimnis" in Form von Leichenbergen vor aller Augen lag, lehnte er, im Rahmen seiner Lehre durchaus konsequent, "jenen beliebten gesinnungsmäßigen Unterschied zwischen Nazis und Gegnern des Regimes" ab, denn alle seien "bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv, an den Gräueln beteiligt gewesen". Und Jung fuhr fort: "Die Tatsache der Kollektivschuld ist ... für den Psychologen eine Tatsache, und es wird eine der schwierigsten Aufgaben der Therapie sei, die Deutschen zur Anerkennung dieser Schuld zu bringen!"

Das nationaltherapeutische Ideologem "Vergangenheitsbewältigung" hat also seinen Ursprung in genau jener völkischen Denkweise, die mit dem Nazismus zur Kritik steht. Es ist der Jungsche Obskurantimus, welcher der Rede von der "Verdrängung der Nazizeit" zugrunde liegt, denn nach Freud hätten allenfalls die unmittelbaren Opfer als Individuen traumatisiert sein können, keineswegs die Täter. Ein Schuldtrauma ist empirisch nicht nachweisbar und seine hypothetische Annahme vollkommen unplausibel, ganz abgesehen davon, dass dieses, wenn überhaupt, nur den individuellen Tätern selbst zugeschrieben werden könnte; es über eine transgenerative Volksseele der dritten Nachfolgegeneration zuzumuten und als Sujet einer "Aufarbeitung" anzuempfehlen, ist vollends absurd.

Eine Erbschuld ist in Freuds Theorie gar nicht formulierbar, und selbst wenn man dieser als Placebo einen gewissen therapeutischen Wert für das neurotische Individuum zuerkennt, ist sie unbrauchbar zur Erklärung der diskursiven Dauerkonjunktur der "Nazizeit": Diese ist undenkbar als "Wiederkehr des Verdrängten", weil es aus kategorialen wie aus empirischen Gründen keine Verdrängung gibt. Das Gerede ist daher keine analytische Kur mit kathartischer Wirkung, sondern eine politische Erpressungsstrategie mit moralischen Mitteln.

Tatsächlich hat die dauerhafte Memorierung von Großverbrechen seit unvordenklichen Zeiten Folgeverbrechen nicht verhindert, sondern diese im Gegenteil oft genug hervorgerufen und legitimiert: Dass die Erinnerung an das Böse vor dessen Wiederholung schützt, ist also eine höchst fragwürdige These, auf historische Erfahrung stützen kann sie sich nicht.

Und doch ist die Formel in verschiedenen Fassungen gebetsmühlenartig wiederholt, und ihre Kritik kommt einem moralischen Tabubruch gleich. "Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen" – dieser Satz hat fast schon die Würde eines Axioms, und er nimmt die Gestalt eines kategorischen Imperativs zum erinnernden Gedenken an, wenn es um die monströsen Untaten des Nationalsozialismus geht. Jeder, der ihn bestreitet oder auch nur in Zweifel zieht, setzt sich dem Verdacht aus, die Verbrechen zu verniedlichen und ihrer Wiederholung Vorschub zu leisten.

Gleichwohl kann die These sich weder auf apriorische Evidenz noch auf eine theoretische Begründung oder historische Erfahrung berufen, nicht einmal auf Plausibilität: Zu allen Zeiten erschien den Menschen das Gegenteil richtig, und das Vergessenkönnen als moralische Leistung, welche die Kette des Unheils durchbrach. Das Gebot ist daher selbst ein historisches Novum, zumindest seit dem Ausgang der Menschheit aus mythischer Vorzeit: Jeder Mythos ist ein genealogischer Schuld/Opfer-Zusammenhang, dessen narrative Weitergabe im Bewusstsein der Generationen ein "kollektives Gedächtnis" schafft, das das Unheil fortwälzt. Es war eine zivilisatorische Leistung ersten Ranges, als es der griechischen Philosophie gelang, das mythische Erinnerungsgebot zu durchbrechen und an seine Stelle dessen Negation zu setzen: das Gebot, nicht zu erinnern. Aus dem Griechischen stammt auch jenes Wort, das ursprünglich einfach "Nichterinnern" heißt: Amnestie. Es taucht als normativer Begriff in der hellenistischen Kultur des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auf und meinte nicht einen individuellen Straferlass, sondern eine kollektive Verpflichtung, an zugefügtes Leid nicht mehr zu erinnern. So sollte der Hass besänftigt und der Frieden gesichert werden.

Wie der Althistoriker Christian Meier gezeigt hat, ist in der Geschichte nach Kriegen und Bürgerkriegen immer wieder beschlossen worden, der vielerlei Untaten, der Verbrechen, Morde, Massaker und Vertreibungen, die in ihnen verübt wurden, nicht mehr zu erinnern, und zwar unabhängig vom Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden war. Natürlich kann Vergessen nicht auf Beschluss erfolgen, Nichterinnern aber kann man sehr wohl um des Friedens willen beschließen, und man kann sich um das Vergessen bemühen.

Genau das ist in unzähligen Fällen geschehen. Die Beispiele, die Meier nennt, reichen von der Attischen Amnestie 403 vor Christus, welche einen Bürgerkrieg beendete, über eine Rede Ciceros, die er zwei Tage nach der Ermordung Cäsars im römischen Senat hielt, um einen Bürgerkrieg zu verhindern ("Alle Erinnerungen an die mörderischen Zwistigkeiten sind durch ewiges Vergessen zu tilgen"), über das Edikt von Nantes, in dem Heinrich IV. "erklärt und verordnet", die Erinnerung an das Geschehene soll "ausgelöscht und eingeschläfert" sein, bis zu einem Gesetz Ludwig XVIII., welches das Gedenken an den Terror der Revolution untersagte und sogar das Vergessen der Königsmörder, der Mörder seines Bruders, befahl, "um die Kette der Zeiten neu zu knüpfen", wie es hieß.

In der Regel war also alles, was in Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen an Gewalttätigkeiten und Gräueln geschah, mit dem Friedensschluss abgetan und erledigt. Dass mit dem Friedensschluss auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben, heißt es bei Kant. Umgekehrt galt in der gesamten europäischen Zivilisationsgeschichte die Maxime "Niemals vergessen!" nicht als Mahnung, eingedenk des vergangenen Schreckens seine Wiederholung zu verhindern, sondern als militante Kollektivverpflichtung, unter günstigeren Bedingungen wieder zu mobilisieren; nicht als Friedensformel, sondern als Kampfparole: Was wäre den Völkern am Balkan nicht alles erspart geblieben, hätten die Serben die Schlacht am Amselfeld irgendwann einmal vergessen . . .

Erst das mythogene zwanzigste Jahrhundert, das auf der Spitze technologischer Modernität und bürokratischer Rationalität Verbrechen tellurischen Ausmaßes im Namen quasireligiöser, eschatologischer Heilslehren hervorgebracht hat, hat auch mit der zivilisierenden Tradition des Nichterinnerns gebrochen und das archaische "Niemals vergessen!" als moralische Verpflichtung wieder in Geltung gesetzt. Das beginnt schon mit den Friedensverträgen von 1919, in denen von den Siegermächten eine Entschuldigung für die Ereignisse von 1914-1918 ausdrücklich zurückgewiesen wurde, und steigert sich nach 1945 zum Pathos eines elften Gebotes: Du sollst niemals vergessen! Damit aber bleiben die Geister lebendig.

Real ist die Nazizeit so versunken wie Karthago, das mumifizierende Gedenken verzaubert sie zum Mythos. So erbt sich das Unheil fort, als Kleingeld der Politik und als schamloses Geschäft. Die Beschwörung der monströsen Verbrechen der Nazis hat heute für die dritte Generation nach der Katastrophe weder eine kathartische Funktion noch die Wirkung eines Apotropaion, vielmehr macht sie aus dem Gebannten ein morbides Faszinosum. Welcher Schläger, der nie ein Buch gelesen hat, käme schon auf die Idee, sich als Jungnazi zu kostümieren, läge man ihm nicht dauernd in den Ohren mit der Nänie über die alten?

Die Grenze zwischen Warnung und Werbung ist hauchdünn, und sie ist schon lange überschritten. Trauer als echtes Gefühl ist nach einem halben Jahrhundert nicht mehr möglich, ihr Simulakrum eine moralische Ausbeutung der Toten. Die Hyperkritik geht über in Hypokrisie, und von da ist es nicht mehr weit bis zum Schuldstolz und zur Lust am Tabubruch. Wie die Dinge liegen, wäre Vergessen nicht nur ein Gebot der Klugheit, sondern auch ein Akt der Redlichkeit; und es wäre eine Geste der Pietät. Schlimme Folgen hätte es keine, nur vielleicht für das Geschäft.

Rudolf Burger, Jg. 1938, ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. Juni 2001)