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Die große Mehrheit der Ungarn betrachtete János Kádár nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 als Verräter, und das Faktum, dass er namens seiner "Revolutionären Ungarischen Arbeiter- und Bauernregierung" sich offiziell dazu bekannte, die Sowjetunion um Intervention ersucht zu haben, schien ihnen dies zu bestätigen. Dazu ist anzumerken, dass der Kreml dieses Ersuchens bedurfte, um den Schein einer völkerrechtlichen Legitimation zu wahren. Zwar war der Warschauer Pakt bereits am 14. Mai 1955 unterschrieben worden - übrigens vom damaligen ungarischen Regierungschef András Hegedüs in der deutschen Fassung, weil eine magyarische gar nicht vorgelegt worden war -, doch der Abzug der Russen aus Österreich hatte den Aufenthalt sowjetischer Truppen in Ungarn überflüssig gemacht, und erst 1957 wurde ein Stationierungsvertrag abgeschlossen. Weder die Intellektuellen noch die während der Revolution gegründeten Arbeiterräte zeigten sich bereit, mit der "Arbeiterregierung" zusammenzuarbeiten. Kádár beantwortete den Widerstand mit drakonischer Strenge; die Hunderten Hinrichtungen gipfelten im Geheimprozess gegen Imre Nagy und seine Mitstreiter mit nachfolgender Todesstrafe im Juni 1958, und rund 20.000 Beteiligte am Aufstand wanderten in die Gefängnisse. Erst gegen Ende 1958 zeigte Kádár, dass er - selbst sieben böse Jahre in stalinistischen Kerkern - nicht willens war, zu einer Diktatur im Stile Rákosis zurückzukehren, ohne freilich von den Ostblock-Grundprinzipien des Machtmonopols der KP, der sozialistischen Eigentumsverhältnisse und der unverbrüchlichen Treue zur Sowjetunion abzurücken. Mit den neuen Wegen, die sein Regime zu beschreiten begann, suchte er seinen Landsleuten verständlich zu machen, was ihn selbst bewegte: "Es gibt Situationen, in denen man das machen muss, was nur wenige verstehen. Aber man muss es doch tun in der Hoffnung, dass die Gründe im Nachhinein begreiflich werden." Und bezüglich der Bevölkerung gab er sich, in Abwendung vom früheren Totalitätsanspruch seiner Partei, mit der Devise zufrieden: "Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns." Auch mit der Kirche schloss das Regime Frieden, und 1971 durfte sogar Kardinal Mindszenty, bis dahin Asylant der US-Botschaft, nach Österreich ausreisen. Auch Chruschtschow war offenbar mit dieser Linie einverstanden. Ein großzügiger sowjetischer Kredit half, die ungarische Wirtschaft anzukurbeln. Dabei war man darauf bedacht, das Kleingewerbe zu ermuntern, den Markt ausreichend mit Konsumgütern zu versorgen und die Realeinkommen der Arbeiter zu steigern, damit die Besserung der Verhältnisse für die Massen erkennbar würde. Auch wurde im Lauf der Jahre den Ungarn das Gefühl genommen, in einem Käfig zu leben: Auslandsreisen in den Westen wurden zunehmend erleichtert und erreichten schon 1963 die Zahl von 120.000 - das 40fache von 1954! Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde zwar nicht aufgegeben, doch neue Wege - so das Zugeständnis an die Bauern, Nebenwirtschaften führen zu dürfen - füllten die Lebensmittelmärkte. Der Reformkurs fand auch seinen Niederschlag in der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, wie die KP sich nun nannte: Sowohl Dogmatiker als auch Revisionisten wurden aus Leitungspositionen entfernt. Mit einigem Neid betrachteten die anderen Volksdemokratien den Kádárschen "Gulaschkommunismus", und mit augenzwinkernder Zweideutigkeit sprach man von der "lustigsten Baracke im sozialistischen Lager". Der Sturz Chruschtschows (1964) war für Kádár, wie er in einer im In- und Ausland aufsehenerregenden Lobrede für diesen bekannte, kein Anlass, von seinem Kurs abzuweichen. So wurde 1968 in einem neuen Reformschub den staatlichen Industrie- und Handelsunternehmen weitgehende betriebliche Autonomie gewährt, wodurch sie besseren Zugang zur internationalen Arbeitsteilung erhielten und sich auf Gewinnmaximierung ausrichten konnten. Die staatliche Planung wurde auf wenige grundlegende Ziele beschränkt. Allerdings mussten nach der Beendigung des "Prager Frühlings" - auch ungarische Truppen nahmen teil - Teile der Wirtschaftsreform zurückgenommen werden. Dies, zusammen mit der nachfolgenden Ölkrise, beendete Kádárs "goldenes Zeitalter", obwohl der Lebensstandard, vor allem durch die Aufrechterhaltung der "zweiten Wirtschaft", sprich des Pfuschs, für die Masse der Bevölkerung weiter über dem der anderen Ostblockländer erhalten blieb. Ein außenpolitischer Erfolg für Kádár und ein Zugeständnis an den ungarischen Nationalstolz war die Rückgabe der Stephanskrone durch die USA (1978). Im Laufe der Achtzigerjahre geriet das Regime durch wirtschaftliche Misserfolge in die Krise. Steuererhöhungen senkten das Realeinkommen. Reformvorschlägen in Richtung Marktwirtschaft folgten Forderungen nach politischem Pluralismus, so vorweg von dem im Herbst 1988 gegründeten "Ungarischen Demokratischen Forum". Wenig später wurde die Kleinlandwirte-Partei neu gegründet. Die von Rumäniens Ceau¸sescu geplante Zerstörung der Dörfer wurde als ernste Gefahr für die ungarische Minderheit im Nachbarland erkannt und angegriffen. Die Hegemonie der Sowjetunion wurde infrage gestellt. Im Mai 1988 setzten sich die radikalen Reformpolitiker in der KP durch: Kádár wurde durch Károly Grósz, der bereits Ministerpräsident war, auch als Generalsekretär der Partei abgelöst. Anfang 1989 beendete die Partei die Lebenslüge des offiziellen Ungarn, indem sie in einer historischen Neubewertung die Ereignisse von 1956 zum "Volksaufstand" erklärte. Am 16. Juni wurde Imre Nagy feierlich neu bestattet, und am 6. Juli wurde er offiziell rehabilitiert - am selben Tag starb Kádár. Schon im Februar 1989 hatte die KP auf ihre von der Verfassung garantierte Führungsrolle verzichtet. Im August zogen über Nachwahlen zum ersten Mal Oppositionspolitiker ins Parlament ein. Zum politischen Signal wurde es, dass die Regierung am 11. September für Tausende von ausreisewilligen DDR-Bürgern die Grenzen nach Österreich öffnete (nachdem schon im Mai mit Wien der Abbau der technischen Grenzsperren vereinbart worden war). Beim Parteitag im Oktober konstituierte sich die kommunistische Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei neu als nun sozialdemokratische Ungarische Sozialistische Partei (MSZP). Am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag der 56er-Revolution, wurde nach einer Verfassungsänderung durch das Parlament die Republik Ungarn anstelle der Volksrepublik proklamiert. Im März 1990 sicherte Gorbatschow Ungarn den Abzug der Sowjettruppen zu - der letzte russische Soldat verließ am 19. Juni 1991 das Land, in dem damals eine Stunde lang die Kirchenglocken läuteten. Am 1. Juli wurde der Warschauer Pakt in Prag für erloschen erklärt. Im Frühjahr 1990 hatten die ersten demokratischen Wahlen seit 1945 stattgefunden. Unter der Vielzahl der Parteien, die antraten, schafften sechs den Einzug ins Parlament. Das Demokratische Forum (MDF) erhielt 42,5 Prozent der Stimmen. Es bildete zusammen mit den Kleinlandwirten (11,1 Prozent) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (5,4 Prozent) eine national-konservative Koalition. Ministerpräsident wurde Jószef Antall. Die ehemalige KP (MSZP) erhielt nur 8,6 Prozent. Um grundlegende Verfassungsänderungen durchzubringen, schloss die Regierung mit ihr einen Pakt; im Gegenzug wurde deren Kandidat Arpád Göncz Staatspräsident. Antáll nahm Kurs auf Europa: Nach dem Beitritt zum Europarat erfolgte Ungarns Antrag auf Eintritt in die EU sowie ein Vertrag mit der Nato, durch den Ungarn der "Partnerschaft für den Frieden" beitrat (1994). Da die Transformation der Wirtschaft vielen Ungarn schwere Opfer auferlegte, die Regierung gleichzeitig zunehmend - insbesondere im Hinblick auf die magyarischen Minderheiten in der Slowakei und in Rumänien - auf die nationale Karte setzte und soziale Probleme, so das wachsende Elend der Altersrentner, zu überdecken suchte, schlug bei der Wahl 1994 das Pendel in die Gegenrichtung aus. Nun gewannen die Sozialisten 54,2 Prozent der Stimmen, gefolgt von 18,1 des liberalen Bundes der Freien Demokraten (SZDZS); diese beiden bildeten nun eine Koalition mit Gyula Horn als Ministerpräsidenten. Trotz außenpolitischer Erfolge - etwa der Abschluss eines Grundlagenvertrags über die Rechte der Rumänien-Ungarn - zeigte sich die Bevölkerung auch von dieser Regierung bald enttäuscht, konnte doch auch sie nicht auf Maßnahmen zur Konsolidierung des Staatshaushalts verzichten. Bei den jüngsten Wahlen 1998 schenkten die Wähler ihr Vertrauen dem von dem jungen Politiker Viktor Orbán geführten Bund Junger Demokraten (FIDESZ), der anstelle der 20 in 1994 eroberten Sitze 148 gewann. Mit dem Demokratischen Forum und den Kleinlandwirten sicherte er sich die Mehrheit der 386 Parlamentsmandate; die nun oppositionellen Sozialisten hielten 134 (statt 209). 1998 wurden die Beitrittsverhandlungen der EU mit Ungarn aufgenommen, 1999 wurde es Mitglied der Nato. Zum Staatsoberhaupt wurde 2000 der parteilose Rechtsgelehrte Ferenc Mádl gewählt. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe 16./17. 6. 2001)