Wenn derzeit in Sachen Nazi-Zeit “auf- und durchgearbeitet, bewältigt und erinnert” wird, “was die Auflage hält”, wie der “Standard” am 9./10. Juni eine Reihe von Diskussionsbeiträgen einleitet, so sollte das Ganze prinzipiell einmal positiv gesehen werden. Gerade jene Generation der Nachgeborenen, der auch ich als Kind der “Babyboomer-Zeit” angehöre, hat in der Vergangenheit die Vergangenheitsbewältigung eher als Verschweigen denn als Aufarbeiten erlebt. Deshalb sind Filme, TV-Serien, Bücher, Reportagen wie jene im “Format” vom 1. Juni oder aber Diskussionen wie im “Standard” aus der Sicht der heute 35- bis 40-Jährigen mehr als begrüßenswert. In den 70er-Jahren, als die “Babyboomer” Welt und Menschen zu entdecken begannen, war die Zeit zwischen 1938 und 1945 völlig ausgeblendet. Ein weißer Fleck. Weder Familie noch Schule und schon gar nicht Gesellschaft waren in der Lage, den Heranwachsenden die Augen zu öffnen und ihnen einen objektiven Zugang zu den Ereignissen der Nazi-Zeit zu gewährleisten. In der Familie wurde lediglich vom Krieg als einer schrecklichen Zeit der Not und des Hungerns gesprochen, in vielen Fällen unterfüttert mit Kriegserlebnissen von Großvätern, Vätern und Onkeln. Das Ende des Zweiten Weltkrieges wurde als “Zusammenbruch” und nicht als “Befreiung” bezeichnet. In der Schule war die Hitler-Zeit ein Tabu. Im Geschichtsunterricht hörte man zwar viel von römischen Kaisern und Glanztaten des Hauses Habsburg, spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges waren dann auch die Schuljahre zu Ende. Die Zwischenkriegszeit mit dem Bürgerkrieg im Jahr 1934 war ebenso kein Thema wie die Nazi-Zeit oder gar der Holocaust. Auch in der Gesellschaft konnte man kaum Hilfe finden, zu sehr war diese darauf versessen, das Lügengebäude von Österreich als erstem Opfer Hitler-Deutschlands in die alleingültige Wahrheit zu verwandeln. Es gab in den 70ern auch kaum Reportagen in den Medien oder Literatur zum Thema. Und wenn, dann meist irgendwo versteckt. Einen ersten großen Ruck gab es erst am Ende der 70er-Jahre: Die Ausstrahlung des TV-Vierteilers “Holocaust” im ORF löste, ausgehend von einer sehr emotionalen Ebene, eine breitere Diskussion über die so lange totgeschwiegene Zeit aus. Kinder stellten ihre Eltern, Schüler ihre Lehrer zur Sprache. Plötzlich gab es Geschichten in den Zeitungen und Magazinen, aber auch Bücher. Der Roman “Holocaust” von Gerald Green wurde sogar im Buchklub “Donauland” angeboten. Die zweite große Öffnung zu einer breitenwirksamen Erhellung der dunklen Nazi-Jahre löste wiederum ein Film aus: Anfang der 90er-Jahre brachte “Schindlers Liste” von Steven Spielberg jene Lawine ins Rollen, die bis heute zu einem gigantischen Konglomerat an Material über die NS-Zeit angewachsen ist. Und das ist gut so: Im riesigen freien Markt des Angebotes kann man als Konsument wählen wie nie zuvor. Das Spektrum reicht von eher auf ein Massenpublikum abzielenden Publikationen wie “Hitlers Helfer” oder “Holokaust” von Guido Knopp über differenzierte Betrachtungen wie “Die Frauen der Nazis” von Anna Maria Sigmund bis hin zu streng wissenschaftlichen Arbeiten wie “Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Jonah Goldhagen. Und wenn sogar 1000-Seiten-Wälzer wie die zweibändihe Hitler-Biografie von Ian Kershaw Spitzenplätze in den Bestseller-Listen erklimmen, dann sollte auch das positiv gesehen werden. Zumal fast alle Publikationen eines gemeinsam haben: Die Annäherung an das Thema ist objektiv, die subjektive Deutung allerdings eindeutig. Soll heißen: Es gibt kaum Anbiederungen an das Braune, das Schreckliche des Terror-Regimes wird herausgearbeitet - und die Schlüsse werden meist dahingehend gezogen, dass so etwas nie mehr passieren dürfe. All das leistet sehr viel für die Sensibilisierung der Menschen und die Entmythologisierung der von Rudolf Burger zynisch als “morbides Faszinosum” bezeichneten Nazi-Zeit. Wir haben die Zeit des Schweigens, Verhüllens und Unter-den-Teppich-Kehrens miterlebt. Wir haben auch die zaghaften Schritte des offeneren Zuganges miterlebt, so wie wir jetzt die breite und tiefe Beschäftigung mit dem Thema miterleben. Und so lange in der Alltagssprache noch Ausdrücke verwendet werden, die direkt aus dem mörderischen Holocaust übernommen wurden (“Im Rampenlicht stehen”, “Durch den Rost fallen” oder “Sich in Luft auflösen”), solange müssen all die Filme, TV-Serien, Bücher, Reportagen und Diskussionsbeiträge in den Zeitschriften und Zeitungen gemacht werden. Ganz unter dem Motto: Wir haben viel zu lange zu wenig bekommen - gebt uns mehr! Gernot Romar, Jahrgang 1964, ist Journalist in Graz und war von 1986 bis zur Einstellung Ende April 2001 (mit einer Unterbrechung zwischen 1996 und 1998) Redakteur der steirischen Tageszeitung “Neue Zeit”.