Am EU-Gipfel in Göteborg vertraten sie Frankreich "mit einer Stimme" - doch in Paris befehden sich Präsident Chirac und Premier Jospin zehn Monate vor den Präsidentschaftswahlen wie noch nie. Zwischen den Cohabitations-Partnern herrsche "Nervenkrieg", titelt Le Monde in seiner Freitagausgabe. Grund ist ein Eklat in der Nationalversammlung. Ein bürgerlicher Parlamentarier fragte den sozialistischen Premier, bis wann er in den Achtzigerjahren in der trotzkistischen Formation OCI mitgewirkt habe. Lionel Jospin wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Giftig replizierte er, er habe seinen Erklärungen von vor einer Woche nichts anzufügen. Zum Vorwurf, er habe seine trotzkistische Vergangenheit jahrelang geleugnet, meinte er: "Ich habe vielleicht zugewartet, mich vor Journalisten zu äußern, aber das ist immer noch weniger schlimm, als sich nicht vor dem Richter zu äußern." Gemeint war natürlich Jacques Chirac, der sich mit Hinweis auf seine präsidiale Amtsimmunität weigert, zu den Pariser Schmiergeldaffären auszusagen. Nach dieser kurzen Erklärung stieß Jospin das Mikrofon weit von sich und setzte sich wutentbrannt. Nur zwei Stunden später erging aus dem Elysée-Palast ein Kommuniqué, das sich gegen jede "Polemik" verwahrt und den Regierungschef im Hinblick auf gemeinsame internationale Auftritte zur "Verantwortung" aufrief. Vor allem linke Pressetitel wie Le Monde oder das Wochenmagazin le nouvel observateur lassen an der Antwort kaum einen Zweifel. Sie berichten in ihren neuesten Ausgaben, dass Jospin auch nach 1981 - als er Sozialistenchef geworden war - noch mit hochrangigen OCI-Mitgliedern in Kontakt geblieben sei. Doch dazu schweigt der Premier. Wie sehr ihn die Affäre belastet, zeigte ein Lapsus in einer Parteiversammlung, als er statt "travaillistes" (Blairs Labourpartei) "trotzk..." sagte - und auf den folgenden Szenenapplaus mit dem Herausstrecken der Zunge reagierte. Chirac steht allerdings auch weniger über der Sache, als er sich mit seinem jovialem Auftreten den Anschein gibt. Das Elysée steuert die bürgerlichen Wortmeldungen rund um Jospins "Trotzkismus" sorgfältig, um den Druck aufrechtzuerhalten. Zudem verweigert Chirac seine Zustimmung zur Ernennung des neuen - grünen - Umweltministers Yves Cochet, weil es dieser gewagt hatte, zusammen mit linken Parlamentariern ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatschef zu fordern. (DER STANDARD, Print, 18.6.2001)