Vor kurzem hat an dieser Stelle Heidemarie Uhl sehr treffend auf die neuartige Instrumentalisierung der "Vergangenheitsbewältigung" durch die schwarz-blaue Bundesregierung hingewiesen, die den bislang kritisch konnotierten Diskurs in eine Werbestrategie transformiert. Mit dem Fernbleiben blauer Spitzenvertreter von der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am Tag der Befreiung des KZs Mauthausen schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. Doch auch hier wurde ein weiteres eindrückliches Beispiel eines veränderten Umgangs mit der Vergangenheit geliefert, der vielleicht deshalb so wenig Resonanz hervorgerufen hat, weil man seit einem Jahr ohnehin schon so manches gewohnt ist: Peter Westenthaler und Peter Sichrovsky beriefen sich auf die Möglichkeit und das Recht eines verinnerlichten, individuellen Gedenkens - in Abgrenzung zum öffentlichen Ritual in der Hofburg. Dieses wurde von beiden implizit als leer und nichts sagend, als "Spektakel" abqualifiziert, während das "stille Gedenken" demgegenüber als quasiauthentisch erschien. Der allgemein beobachtbaren "Katholisierung" des Holocaust-Gedenkens wird hier gewissermaßen ein protestantischer Zugang gegenübergestellt, emphatisch als der glaubwürdigere markiert. Diese Rhetorik leugnet nicht mehr "einfach" den Holocaust oder verharmlost ihn, sondern schließt vermeintlich an die engagierten Forschungen und Debatten der letzten Jahre über Gedächtnis und Gedenken an, scheint gleichzeitig sich des Ereignisses völlig bewusst zu sein und zieht ein scheinbar einleuchtendes Fazit aus allem. Historiker/innen und Kulturwissenschafter/innen haben dazu die Vorlage geliefert, zum Beispiel mit der ständigen Betonung der Unbeschreibbarkeit und Unverstehbarkeit der Verbrechen oder mit dem Hinterfragen routinierter Gedenkrituale. Dies lässt die Stille und das Schweigen ja nahe liegend erscheinen. Einfache Lösungen sind aber "nach Auschwitz" nicht zu erwarten, auch wenn nach über 50 Jahren die Zeit dafür gekommen zu sein scheint. Geschichtsschreibung und Gedenkpraxis sind davon nicht ausgenommen. Die Rede von der "Vergangenheitsbewältigung" hat durch ihre Nähe zum psychoanalytischen Vokabular von Anfang an den unangenehmen, schon oft benannten Nebeneffekt, nach dem "Aufarbeiten" des "Verdrängten" eben die Möglichkeit einer endgültigen "Bewältigung" des Problems zu suggerieren. Die nahe liegende Befürchtung einer solchen "Endlösung der Erinnerung" wurde in der Berliner Republik im Hinblick auf das zentrale Holocaust-Mahnmal geäußert. Denkmäler scheinen allerdings in Österreich kaum für einen Abschluss zu taugen. Diese Rolle scheinen eher Zwangsarbeiterentschädigung und Restitution zu übernehmen. Das Symbolische bleibt damit scheinbar aus - zugunsten einer praktischen "Wiedergutmachung" (ein ebenso entlarvender Begriff wie der der "Vergangenheitsbewältigung"). Der Vorteil für die Opfer ist klar, wenn man einmal davon absieht, dass die auszuzahlenden Summen eben nur symbolische Relevanz haben werden. Die schwarz-blaue Bundesregierung löst damit eine alte Forderung ihrer heutigen Gegner ein. Sie tut dies kalkuliert ohne eine gesamtstaatliche symbolische Anstrengung oder auch nur Diskussion darüber. Darum bietet sich für sie neuerdings auch die Rhetorik von "Verdrängen" und "Bewältigen" an: Wenn das Thema schon behandelt werden muss, dann mit einer klaren Zielvorgabe - seiner Beendigung. Es bleibt in der gutmeinenden Öffentlichkeit allein der formelhafte und erstarrte, auf seine Art ritualisierte Diskurs über den Holocaust und seine Opfer, wie sich erneut an den Akten der Gestapoleitstelle Wien zeigte. Die Geschichtswissenschaft spielt für Medien und Öffentlichkeit hier nur den Stichwortgeber. In der Forschung dürfte sich währenddessen die Einsicht durchsetzen, dass Gedächtnis und Gedenken ohnehin jeweils instrumentalisiert sind, der Begriff der "Verdrängung" somit möglicherweise nicht ganz treffend die Situation nach '45 bezeichnet. Ein "reines" Gedächtnis kann es nicht geben, höchstens in Form einer traumartigen Versenkung. Diese scheint möglicherweise Westenthaler und Sichrovsky vorzuschweben. Im Sinne von Demut und Sensibilisierung ist das natürlich nur zu begrüßen. Die ausschließliche und einzig angemessene Antwort auf Probleme, die der Holocaust aufgeworfen hat, kann sie allerdings nicht sein. Zwar ist "Auschwitz" spätestens mit dem Kosovokrieg zu einer beliebig ausfüllbaren und einsetzbaren Leerformel geworden, was immer deutlicher werden lässt, dass es eine nützliche Lehre aus der Geschichte des Holocaust, wie sie im Allgemeinen emphatisch gefordert wird, gar nicht gibt. Dennoch kann das stille Eingedenken nicht die einzige und endgültige Antwort auf den "Zivilisationsbruch" (noch ein höchst heikler, wenn auch unvermindert treffender Begriff) darstellen. Es könnte und sollte die Grundlage öffentlichen und kollektiven Gedenkens sein, das wohl nur als Ritual, in einer Form, ablaufen kann. Das individuelle Gedenken könnte so der Routine als einer eingeübten Fertigkeit und oberflächlich-glatten Gewandtheit Einhalt gebieten - etwas, was wohl kaum bei Wolfgang Schüssels Bild vom Zacken (oder war es ein Stein?) und der Krone passiert sein dürfte. Bei aller nahe liegender und berechtigter Kritik an den ritualisierten und instrumentellen Formen des Gedenkens bleibt die Frage: Wo stünden wir ohne sie? Wo kämen wir ohne sie hin? Dirk Rupnow, geboren in Berlin, lebt und arbeitet als Historiker in Wien, war Mitarbeiter der Historikerkommission und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum Zusammenhang von Vernichtung und Erinnerung im "Dritten Reich" und in der Nachkriegszeit am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. Juni 2001)