Wien - Mit ihrer Geschichte sieht sich nun erneut die SPÖ schmerzhaft konfrontiert: eine Neuerscheinung des Czernin-Verlags ist der schützenden Hand der SPÖ über den NS-Psychiater Heinrich Gross auf der Spur. Eine tragende Rolle sei dabei dem Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) zugekommen, so die Autoren Oliver Lehmann und Traudl Schmidt in ihrem Buch "In den Fängen des Dr. Gross". Nicht nur das Verhalten des BSA in der Vergangenheit wird aber angeprangert, sondern auch der Umstand, dass der BSA nicht bereit war, sein Archiv für Recherchen zu öffnen. Eine Schlüsselrolle in Sachen Abblocken komme dabei Wiens Finanzstadtrat Sepp Rieder (S) zu. Dieser wies die Kritik umgehend zurück, in der SPÖ-Zentrale wird auf das umfassende Geschichtsprojekt verwiesen. ÖVP und FPÖ kritisierten den Umgang der SPÖ mit ihrer Geschichte. Lehmann und Schmidt stellen in ihrem Buch die Lebensgeschichte des Spiegelgrund-Opfers Friedrich Zawrel jener des Arztes Gross gegenüber. Während Gross mit Hilfe der SPÖ und des BSA in der Zweiten Republik große Karriere machte, hatte der in die Kleinkriminalität abgerutschte Zawrel just auf Grund eines Gross-Gutachtens eine verhältnismäßig lange Haftstrafe abzusitzen. Kreuzungspunkte gibt es aber auch mit Rieder, der den Autoren zu dem Thema das Gespräch verweigerte. Rieder sei sowohl Vorstandsmitglied der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft (für Gross wurde im Lauf seiner Karriere ein eigenes Institut gegründet) als auch BSA-Vorsitzender. Rieder habe zudem im Büro des damaligen Justizministers Christian Broda (SP) gearbeitet, und zwar zu jener Zeit, als Zawrel das Ministerbüro mit Briefen wegen seiner Verurteilung auf Grund des Gross-Gutachtens bombardiert habe. Dem Büro Broda bzw. Broda selbst sei es aber nur darum gegangen, dass einer der Ihren nicht in Schwierigkeiten komme. Das Leben des kleinen Zawrel sei dabei "vollkommen gering geschätzt worden", so Lehmann. Gross war seit 1951 BSA-Mitglied, seit 1953 SPÖ-Mitglied. Absurde Vorwürfe? Rieder wehrte sich am Mittwoch gegen die Vorwürfe. Es sei "absurd, dass ein Politiker, der in Wahrheit nicht nur medial, sondern auch in Taten gegen Gross vorgegangen ist, jetzt focussiert wird für den Umgang der SPÖ mit der Vergangenheit", teilte Rieder mit. Rieder sei "der erste gewesen, der Gross öffentlich als Mörder bezeichnet hat. Und Rieder hat auch - entgegen dem Rat vieler Juristen - Gross aus seiner Dienstwohnung auf der Baumgartner Höhe geworfen", hieß es weiter aus dem Stadtrat-Büro. Und "es ist nicht korrekt, dass Rieder Mitarbeiter im Büro von Minister Broda war. Er war nie im Kabinett des Ministers, sondern er war in der Legislativsektion 2 des Justizministeriums. Rieder hat mit dem Fall Gross nichts zu tun gehabt". In der SPÖ-Zentrale wollte man die Weigerung des BSA, seine Archive den Autoren offiziell zu öffnen, nicht kommentieren. Das sei Sache des BSA. Scharf zurück wies man in der Löwelstraße aber auf APA-Anfrage den bei der Pressekonferenz zur Präsentation des Buches gefallenen Vorwurf, aus der von SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer angekündigten Historikerkommission zu den braunen Flecken in der eigenen Partei werde nichts. Nach Gesprächen mit einigen Historikern kristallisiere sich heraus, dass dieser Forschungsauftrag aller Voraussicht nach an das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien vergeben werde, hieß es in der SPÖ-Zentrale. Offen sei nur mehr die Finanzierung. Und genau daran würde man derzeit arbeiten: die Mittel für dieses umfassende Projekt aufzutreiben. Massive Kritik an der SPÖ kam von FPÖ und ÖVP. FPÖ-Generalsekretär Peter Sichrovsky sagte, der Fall Gross werde zum Desaster für den Umgang der SPÖ mit der Nazizeit. Wiens Stadtrat Johann Herzog (F) sieht für Rieder in dieser "mehr als unwürdigen Causa" "mehr als akuten Erklärungsbedarf". Und ÖVP-Generalsekretärin Maria Rauch-Kallat konstatierte einen schlampigen Umgang der SPÖ mit der Geschichte. Wieder einmal werde der Mantel des Vertuschens über ein unangenehmes Kapitel der Geschichte gelegt. (APA)