Rudolf Burgers Plädoyer für das Vergessen rief nicht nur in diesem Blatt einen Sturm der zivilgesellschaftlichen Entrüstung hervor. Denn mehr noch als die Zumutung, das Gedenken an den Holocaust denunziert zu sehen, schmerzt an Burgers Argumentation ihr Aufräumen mit Begriffen wie "Verdrängung" und "Bewältigung": Als ob der Kurswert dieser Wörter auf nichts gegründet sei als auf die unsaubere Art, mit der man sie aus der Sphäre der Analyse entlehnt hat! Das Konstrukt einer "Volksseele", an deren unklarer Psyche die Gedenkenden sich gutherzig abarbeiten, ist in der Tat, mit Blick auf Freuds Theorien, schwer haltbar. Wo Verdrängung aus Gründen der seelenökonomischen Notwendigkeit als wünschenswert erscheint, ist sie sogar dazu geeignet, denjenigen, welchen man aus vielerlei guten Gründen einer "Schuld" zeiht, auch noch zu entlasten. Diesen Zusammenhang hatte wohl auch Theodor W. Adorno im Blick, als er bereits 1959 (!) in seiner Rede Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit das Wort "Schuld" vom reichen Gabentisch der Philosophie herunterwischte. Wie leicht wechsle das Schuld-Gefühl der in der Nazizeit zu Verbrechern Gewordenen in eine Sphäre über, in der es therapeutisch bloß um Heilung gehe. Die zu vergegenwärtigende Schuld sähe dann einem Phantom ähnlich; es käme so weit, dass die "Schuld gar keine wäre, sondern sie wäre die bloße Einbildung jener, die sich davon betroffen fühlen". Das rührt, im Tiefsten, an das eigentümliche Vexierspiel der Psychoanalyse; ihr Heil liegt in der Auflösung von Verblendung, und eben nicht in der expliziten Moral ihrer Wertungen. Heilung meint aber noch keine Entsühnung; und das lindernde Mephisto-Wort aus Faust: ". . . und ist so gut,/ als wär' es nicht geschehen", wäre eben nichts - als des Teufels. Burger wechselt indes leichthändig die Sphären der Begrifflichkeit; er gibt das Vergessen, die "Amnestie", als staatsrechtlich gebotene Form der Zivilisierung aus, und bis an diesen Punkt will dem ungerührten Denker keiner folgen. Es sind die Fallbeispiele, die seine Kritiker stutzig gemacht haben; und in der Tat kann man die Erinnerung an das Edikt von Nantes für prätentiös halten. "Vergeben, weil vergessen" - in dieser Formel steckt mehr als nur das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit. In den erhabensten Werken der Weltliteratur scheint ihr versittlichendes Programm auf, überzeugender und gültiger noch als in den beliebigen Beispielen entlegener Historiographie.
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Im Schlussteil von Aischylos' Orestie peinigen den Muttermörder Orest die wenig ansehnlichen Rachegöttinnen, die Erinyen. Sie wollen ihm ganz buchstäblich das Fleisch von den Knochen reißen. Ihr wahrhaft mänadisches Geheul treibt den Orest nach Athen, zum Bildwerk der Göttin Pallas Athene. Diese, ganz strahlende Vernunft, setzt einen "hohen Gerichtstag" ein. Sie entsühnt den Atriden, und sie beschwichtigt die Erinyen, die auf ihr gutes Recht pochen. Wie setzt sie nun die Zivilisation ins Werk? Ganz einfach: mit einem Vollbeschäftigungsprogramm; mit der glücklichen Resozialisierung der alten Rache-Vetteln. Die dürfen fortan beim Erntedank fleißig mithelfen. Sie siedeln ins "Haus des Friedens" um (eine Art von den Göttern gestiftete Sozialwohnung) und wirken als "Segensspenderinnen". Ein Befriedungsprogramm, das vielleicht jenem Umstand Rechnung trägt, den Rudolf Burger für Nachkriegsösterreich ins Treffen führt: Vergessen wir, was war. Helfen wir mit beim Wiederaufbau! So begründet man besonders leistungsfähige Volksökonomien, und wer wollte der Politik von Raab und Kamitz deren volkswirtschaftliche Wirksamkeit absprechen? Diejenigen, die sich auf das Vergessen aus guten Gründen verpflichten, müssen freilich mit der Wiederkehr von Gespenstern rechnen: von etwas "Gespenstigem", wie Jacques Derrida die Flüchtigkeit dieser Erscheinungen genannt hat. Das Wiedergängertum von Hamlets ermordetem Vater löst in Shakespeares Tragödie einen Rückbezug auf die Blutrache aus. Und Hamlets Zögern erscheint gar nicht so jammervoll, hält man sich die aktuelle Verfasstheit des Staatsganzen vor Augen: Der "Laden" Dänemark wird vom mörderischen Stiefvater Claudius eigentlich ganz gut "in Schuss gehalten"; Hamlets peinigendes Beharren auf seinem Auftrag, den Vater zu rächen, lässt sich als Querulantentum begreifen, mit schlimmem Ausgang für die reale Politik. Vielleicht hat Burger, mit Blick auf die Jahre nach 1945, aber auch nur Gespenster gesehen, wo die Mörder leibhaftig umgingen. Noch einmal Adorno, 1959: "Der Nationalsozialismus lebt noch, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 6. 2001)