Europa
Berlusconi, der Europäer - von Karl-Markus Gauß
Warum Italiens neu gewählter Regierungschef - auch - eine Chance für die EU ist
Kaum hatten manche EU-Repräsentanten Sorge bekundet, dass der Wahlsieg des obersten Forza-Italia-Managers die viel beschworenen "Werte" der Gemeinschaft infrage stellen könnte, war sie auch schon wieder vom Tisch. Das Erstaunen ob dieser vermeintlichen Inkonsequenz hält sich bei Karl-Markus Gauß in Grenzen.
Jahrelang haben wir uns eingeredet, in einer stetig von Barbarei bedrohten Welt würde die Europäische Union das Modell von Freiheit, Internationalität, Demokratie verkörpern. Der Feind war immer draußen. Europa konnte nämlich historisch niemals ein Bewusstsein seiner selbst entwickeln, ohne zugleich ein dunkles Gegenbild von sich zu erschaffen, gegen das es sich strahlend abhebt und in dem es die Gefahr erkennt, vor der es sich schützen möchte. Erst dieses Gegenbild, in das Europa alles imaginiert, was ihm an der eigenen Geschichte unheimlich oder im Nachhinein peinlich ist, schafft die "europäische Identität".
Wie sich Europa historisch mit ganz verschiedenen Werten identifizierte, an denen allenfalls gleich war, dass sie stets als "europäische" begriffen wurden, hat auch das dunkle Gegenbild ganz Verschiedenes gezeigt: den Barbaren, der sich europäischer Kultur nicht zugänglich erweist, den Heiden, der sich christlicher Belehrung verschließt, den Juden, der als fremder Parasit unter uns sitzt, den Kommunisten, der asiatische Gleichmacherei in Europa einführen möchte ...
Tatsächlich exorziert Europa periodisch seine eigenen Dämonen, um sie dann als teuflischen Wesenszug an anderen zu entdecken. Die europäischen Werte von gestern werden so zur akuten Bedrohung Europas, gegen die naturgemäß wieder nichts als die Besinnung auf die europäischen Werte von heute Schutz bieten kann.
Das Rauschen der Beschwichtigung
Dieses Gerede von den "europäischen Werten" ist implizit rassistisch, weil es insinuiert, bestimmte Anliegen der ganzen Menschheit wären spezifisch europäische Errungenschaften; so kann man selbstbewusst gegen den Rassismus auftreten und ihn gleichzeitig als europäischen Dünkel weiterhin pflegen. Das Gerede von den "europäischen Werten" ist zudem verlogen, weil es vergessen macht, was in der Geschichte alles schon als guter europäischer Wert geachtet war: von der Lehre, dass Gottlose massakriert gehören, über die koloniale Praxis, Menschen anderer Hautfarbe zu versklaven, bis zum so genannten Verteidigungskrieg, den der Faschismus nach eigener Definition bekanntlich führte, um Europa vor den asiatischen Horden des Bolschewismus zu beschützen (der naturgemäß auch eine europäische Erfindung war, waren doch weder Marx noch Lenin oder Stalin Asiaten).
Und nun die bange Frage: Sollte Berlusconi womöglich nicht mit diesen europäischen Werten vereinbar sein? Gleich kommt Entwarnung, ob vom französischen oder belgischen Außenminister, nichts ist von den mutigen Vorkämpfern europäischer Demokratie zu vernehmen als das große Rauschen der Beschwichtigung. Berlusconi, lautet die neue Sprachregelung, sei zwar kein Glücksfall, aber auch kein Unheil, denn jedenfalls hat er die Werte, in denen sich Europa heute erkennt, flagrant noch nicht verletzt.
Das stimmt auch. Denn die Europäische Union ist als Zollfreihandelszone gegründet worden und nicht als moralische Anstalt. Sie war notwendig geworden, weil der europäische Kapitalismus von den alten, nationalstaatlichen Grenzen gehemmt wurde und zu seiner freien Entfaltung größere Räume, transnationale Konzerne, grenzenlose Innovationen brauchte. Das ist weder ein moralischer Fortschritt noch eine europäische Gefahr, das sind nur neue Bedingungen, unter denen manches leichter gehen, anderes es schwerer haben wird. Manch alte Borniertheiten sind gefallen, andere sind entstanden. Nationale Ressentiments, die aus Italienern, so fesch sie im Urlaub auch anzuschauen waren, bis in die Siebzigerjahre unfehlbar Katzelmacher machten oder Deutsche in Frankreich unbesehen mit "boches" gleichsetzten, sind überall in der EU im Schwinden begriffen.
Dafür ist im Reich der Europäischen Union ein zuvor unbekannter Rassismus erwachsen, einer, der sich nicht mehr hinterwäldlerisch aus alten Blutsmythen speist, sondern durchaus weltmännisch aus dem Wohlstand, der zur europäischen Festung ausgebaut wird. Wer diesen Wohlstand zu gefährden scheint, sei es als Flüchtling, der nach Europa möchte, oder als Arbeitsloser, der in Europa, seiner Heimat, zum Fremden wird, fällt einer Verachtung anheim, die nicht auf eine bestimmte Hautfarbe, sondern auf das Rassenmerkmal des Geldes bezogen ist.
Sieg des ökonomischen Fanatismus
An diesem Rassismus, der mitten in den zivilisiertesten Ländern hochschießt, ist die Europäische Union nicht so unschuldig, wie sie tut und durch ihren Kampf gegen den Rassismus alter Prägung unter Beweis zu stellen sucht. Denn schließlich war sie es, die die gesellschaftliche Entwicklung in allen Mitgliedsstaaten auf ein von der Wirtschaft vorgegebenes Maß ausgerichtet und dabei nicht gezaudert hat, soziale Traditionen, wo sie der Ökonomie hinderlich schienen, verächtlich zu machen und stattdessen an den Egoismus, die Rücksichtslosigkeit der Starken, zu appellieren.
Der ökonomische Fanatismus, diese dogmatische Theologie eines ungezügelten Marktes, der sich einverleibt, was immer er braucht und ausstößt, was er nicht mehr benötigt (wozu ganze einst bevorzugte europäische Regionen gehören können), hat nach einer neuen staatlichen Form verlangt, und die Europäische Union ist diese Form. Berlusconi aber ist nichts anderes als deren fratzenhafte Karikatur; er verkörpert den europäischen Wert der Profitgier so schamlos, dass er diesen ohne das übliche Festtagskleid präsentiert, und stolz stellt er sich, der neue Europäer schlechthin, der gar keine anderen Ideale als materielle mehr hat, seinen Medien zur Schau. (In der lächerlichen Eitelkeit, mit der er posiert, ähnelt er unverkennbar Mussolini.)
Trotzdem ist Berlusconi eine Chance für die Europäische Union. Mit ihm ist offenkundig geworden, dass der Barbar nicht draußen vor den Toren wartet, Europa zu zerstören, sondern dass er immer schon herinnen war und auf den Stufen zum Thron gesessen hat. In der Hemmungslosigkeit, mit der er einige Prinzipien der neuen europäischen Ökonomie verficht, gefährdet Berlusconi andrerseits zweifellos das europäische Projekt. Immerhin haben Millionen Bürger der Union, die sich von Europa mehr als nur das Wachstum von Konzernen erwarten, inzwischen auch ein paar Ziele entwickelt, die über jenes einer Zollfreihandelszone weit hinausreichen. In seiner unersättlichen Gier, alle Dinge des Lebens dem Profit zu unterwerfen und allen Dingen des Lebens Profit abzupressen, arbeitet Berlusconi aber vehement auf die Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft hin.
... und Österreich applaudiert
Seine leidenschaftlichsten italienischen Kritiker im vergangenen Wahlkampf sind nicht etwa linke Ideologen gewesen, sondern jene großen alten bürgerlichen Intellektuellen, die wie Indro Montanelli ihr ganzes Leben lang gegen den Sozialismus und erst recht gegen den Kommunismus gekämpft haben. Sie sehen jetzt, dass die bürgerlichen Werte, die sie verfochten, dass Pressefreiheit, Meinungsvielfalt, kämpferische Toleranz, allgemeiner Wohlstand, kulturelle Entwicklung nicht im Ansturm eines linken Totalitarismus zuschanden wurden, sondern einem bürgerlichen Extremismus zum Opfer fallen, der von allen Werten nur mehr den des Gewinns übrig gelassen hat.
Die Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft, das ist eine reale Gefahr, die von dem System Berlusconi ausgeht, eine Gefahr, die von seinen Medien als Fortschritt verkauft wird. Und darin ist der Geschäftsmann, der in die Politik vermutlich nur gegangen ist, damit er seine Geschäfte politisch absichern kann, ein echter Schössling der Europäischen Union. Auch wenn der Schoß, aus dem das kroch, sich in diesem aufdringlichen, gefährlichen Kind vielleicht nicht gerne mehr erkennen möchte.
Während es manche Konservative in Europa vor Berlusconi schaudert, wittern andere jetzt die Chance, mit ihm das Gespenst des Sozialismus endgültig zu verscheuchen. In diesem Sinne ist es bemerkenswert, dass die Generalsekretärin der Österreichischen Volkspartei, Rauch-Kallat, Berlusconi schon vor seinem Wahlsieg zu Kreuze gekrochen ist und unverhohlen auf den Triumph seines rechten Bündnisses gesetzt hat. Dass die Tendenz zur bürgerlichen Selbstzerstörung just bei der bürgerlichen Partei Österreichs so großen Beifall findet, passt erschreckend gut zu dem, was diese Partei in den letzten Monaten angerichtet hat. Die Wende muss vollzogen werden, koste was es wolle.
Bedenkenlos hat die Volkspartei, um am Triumph Berlusconis selbst was zu naschen zu haben, übrigens die ihr früher so teuren Südtiroler verraten. Die Südtiroler wissen, was Berlusconi für Italien und also auch für sie bedeutet, und darum ist ihre konservative Partei, die Bruderpartei der ÖVP, über ihren Schatten gesprungen und hat sich dem Mitte-links-Bündnis Ulivo angeschlossen. Dies war ein Schritt, der nicht nur für Südtirol und Italien bedeutsam ist, zeigt er doch, dass es für Europa tatsächlich eine Zukunft jenseits des Nationalstaates, jenseits des Nationalitätenprinzips geben könnte.
Erstmals hat eine österreichische Regierung eine Partei unterstützt, die die berechtigten Anliegen der altösterreichischen Minderheit in Südtirol ignoriert und populistisch in jeder Frage und in jeder Region nach dem Dünkel der Mehrheit agiert. Der bisher selbstverständliche nationale Schulterschluss ist von jenen zerhauen worden, die diesen, wenn er ihnen konveniert, ansonsten geradezu brachial von uns zu verlangen pflegen.
Darin keimt, womöglich, ein echter Fortschritt: dass nämlich in Europa die Dinge künftig nicht unbesehen und von vornherein nach nationalen Kriterien verhandelt werden, sondern sich andere Bündnisse, Kooperationen ergeben. Und das wäre wieder ein kluger dialektischer Zug der Geschichte: dass ausgerechnet jene, die es national gerne wallen lassen, den nationalen Belangen die härtesten Schläge versetzen.
Karl-Markus Gauß lebt als Schriftsteller und Essayist in Salzburg; zuletzt erschien von ihm das Reisebuch "Die sterbenden Europäer" (Zsolnay).
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. Juni 2001)