Auf dem Roten Platz in Moskau werden junge Offiziere ausgemustert. Im Stechschritt treten sie einzeln vor, um das Ernennungsdekret entgegenzunehmen. Von der Tribüne aus, wo bei Paraden zu Sowjetzeiten die mittlere Nomenklatura stand, verfolgen Angehörige der jungen Soldaten die Zeremonie. Russlands Armee, nach dem Zusammenbruch der UdSSR demoralisiert und materiell vernachlässigt, scheint unter Präsident Wladimir Putin wieder Mut gefasst zu haben.

Während die jungen Offiziere vom Roten Platz abziehen, empfängt drinnen im Kreml der Hausherr Thomas Klestil zum offiziellen Gespräch. Es ist der erste Staatsbesuch eines österreichischen Bundespräsidenten im demokratischen Russland. 1982 kam Klestils Vorvorgänger Rudolf Kirchschläger nach Moskau, neun Jahre vor dem Ende der Sowjetunion.

Die Atmosphäre ist entspannt, ja betont freundschaftlich. Das gemütliche Beisammensein der Präsidentenpaare in der Datscha der Putins am Vorabend hat das Verhältnis weiter vertieft. Offenbar auf Ersuchen des Gastgebers wird striktes Stillschweigen über die Begegnung gewahrt, nicht einmal eine vage Beschreibung der Örtlichkeit gibt es. Wieder einmal zeigt sich auch, wie wichtig der Sprachfaktor im persönlichen Umgang zwischen Spitzenpolitikern ist. Putin spricht durch seinen langjährigen DDR-Aufenthalt (als Geheimdienstoffizier) ausgezeichnet Deutsch.

Auf dem Weg zur Pressekonferenz bleiben Klestil und Putin, von den Journalisten aus der Distanz beobachtet, kurz stehen, offenbar um ihre Einleitungsstatements aufeinander abzustimmen. In diesen dominieren dann die Wirtschaftsbeziehungen und deren positive Entwicklung. Putin verweist auf Reformen zur Begünstigung ausländischer Investoren und streicht dabei das soeben verabschiedete Gesetz zur Senkung der Gewinnsteuer auf 24 Prozent heraus. Klestil freut sich, dass Putin die Teilnahme von Ministerpräsident Michail Kasjanow am Salzburger Wirtschaftsforum "veranlasst" hat. Er selbst hat ein Treffen Kasjanows mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vermittelt.

Dann aber wird es frostig. Putin nutzt eine Frage zum US-Raketenabwehrprojekt, um die Drohung zu präzisieren, die er vor wenigen Tagen gegenüber amerikanischen Journalisten hier im Kreml ausgesprochen hat.


"Sensibelster Bereich"

Der ABM-Vertrag von 1972 (Garantie wechselseitiger Abschreckung durch Verbot einer umfassenden Raketenabwehr) sei die Grundlage von mehr als 30 internationalen Rüstungsbegrenzungsabkommen einschließlich Start I und Start II - Letzteres sei übrigens von den USA noch nicht ratifiziert. Die Kündigung des ABM-Vertrags und der einseitige Aufbau einer Raketenabwehr würden das Gleichgewicht der Kräfte und Interessen "im sensibelsten Bereich" stören. "Jede Nuklearmacht muss sich darauf einstellen, auch Russland, das ja auch nicht in die Nato eingeladen wird."


Neue Aufrüstung

Durch eine Raketenabwehr würde sich die strategische Position der USA verändern, "sie würden unantastbar". Russland werde dann keine Wahl haben, als zu reagieren und seine Interkontinentalraketen mit nuklearen Mehrfachsprenköpfen auszurüsten. "Das ist die billigste Lösung, und ihr wird man auch in 100 Jahren nicht Paroli bieten können."

Nach dem Exkurs in die Verteidigungspolitik lässt der Kremlchef später nochmals erkennen, wie sehr ihn Herkunft und Ausbildung als Geheimdienstoffizier geprägt haben. In St. Petersburg wird das Besuchsprogramm kurzfristig geändert, weil der begeisterte Judoka Putin (Träger des schwarzen Gürtels) den Judo-Länderkampf Russland gegen Polen mitverfolgen will. Klestil begleitet den Gastgeber in die Turnhalle, der Besuch in der Eremitage verzögert sich. Fast zwei Stunden muss die 60-köpfige österreichische Wirtschaftsdelegation dort warten, bis sie die beiden Präsidenten zu Gesicht bekommt. (DerStandard,Print-Ausgabe,25.6.2001)