Europa
Das Elend in den Enklaven
Die Stadt Gorazde, damals ein Vorhof der Hölle
Die Belagerung von Sarajewo lenkte die Aufmerksamkeit der Medien vom
Elend der schwieriger erreichbaren Enklaven vor allem im ostbosnischen Drina-
Tal ab. Das Leiden der Menschen in Gorazde, Srebrenica oder Zepa nahm oft
apokalyptische Ausmaße an.
Gorazde war im Winter 1992/93 nur mehr über einen Fußpfad erreichbar. Die ersten
UN-Hilfslieferungen ließen
die Karadzic-Serben erst im
März 1993 in die Stadt. Die Bewohner
wären schlicht verhungert, wenn sie
nicht selbst Lebensmittel über die Berge
geschleppt hätten.
Der STANDARD-Berichterstatter schloss
sich im Februar den Gorazde-Gehern
an. Vom Berg Igman ging es 40 Kilometer durch die verschneiten Berge. Man
ging nachts in Konvois von bis zu 800
Zivilisten, eskortiert von 100 Mann
bosnischer Armee. Die Bosnier schleppten, was ging - manche bis zu 40 Kilo.
Der Pfad schlängelte sich knapp an
serbischen Stellungen vor bei. Wegen
der Militäreskorte, die vorne marschierte, griffen die Serben nicht frontal an.
Aber gelegentlich schossen sie auf die
Zivilisten oder legten tagsüber Sprengfallen für die nächste Kolonne aus.
Nach dem Nachtmarsch ruhten wir
uns in einem Bauernhaus am Eingang
der Enklave aus. Am Abend
nahm uns ein Lastwagen in
die noch 20 Kilometer entfernte Stadt mit. 50 Soldaten
drängten sich neben uns auf
der Ladefläche, auf die zunächst die Leichen vom letzten Marsch gestapelt worden waren. Die Toten waren
in der Winterkälte gefroren,
tauten aber in der menschlichen Wärme auf und verströmten ihren Geruch.
Gorazde bot sich als Vorhof der Hölle dar. Frauen
mit Kindern campierten auf offener
Straße - die Stadt war um Zehntausende Vertriebene aus den von den Serben
überrannten Drina-Städten Foca und
Visegrad angeschwollen. Elektrizität
gab es keine, heizen konnte nur, wer einen Holzofen hatte. Die Verteidiger der
Stadt nahmen uns herzlich auf. Journalisten waren ja zu ihnen kaum vorgedrungen. Kämpfe gab es zu dieser Zeit
keine. 4000 Menschen waren gestorben,
10.000 verletzt worden, als sich die Enklave im Sommer zuvor gegen die Serben behauptet hatte.
Die schlimmste Erinnerung: Man
zeigte uns Videofilme von den Notoperationen an den Verwundeten während
der Kämpfe. Selbst bei weniger schweren Verletzungen musste amputiert
werden - mit Küchenmessern, Sägen
und ohne Narkose. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 26.6.2001)