Rudolf Burger ist um seine derzeitige Popularität nicht zu beneiden. Wem beschieden wird, er rede sich "um Kopf und Kragen" (Martin Meyer in der NZZ, 16.6.), der kann auf wenig Beistand hoffen - es sei denn, von der falschen Seite. Tatsächlich ist es außer Lothar Höbelt (Die Presse, 22.6.) bislang niemandem eingefallen, Burger in der Hauptsache, seinem Plädoyer für das "Vergessen" des Holocaust, zu verteidigen. Die Debatte fügt sich weitgehend in das Schema der üblichen Abwehrdiskussionen, die - so Newsweek-Mitherausgeber Andrew Nagorski - nur mehr zwischen "'good guys' who use reassuringly familiar terms about the need to atonement and 'bad guys' who raise troubling questions" unterscheiden. Rudolf Burger hat sich beharrlich in die Rolle des 'bad guy' geschrieben. Und auch wenn seine Kernthese hoffnungslos überzogen ist: 'Troubling questions' stellt er in reicher Zahl. Grund genug, sich ihnen zuzuwenden. Tatsächlich ist Burgers Kritik an der Theorie der 'Verdrängung' der Nazizeit um einiges subtiler als seine Kontrahenten sie zeichnen. Daß es still wurde um den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen, wird von Burger in keiner Weise geleugnet. Der Grund dafür liegt seiner Auffassung nach allerdings nicht darin, daß Geschichte 'verdrängt', sondern darin, daß sie "legitimatorisch benützt", d.h. zur Schaffung einer "spezifisch österreichischen Identitätsgeschichte" verwendet wurde. Daß das nebenbei auch bequemer war, ändert nichts daran, daß der Begriff der 'Verdrängung' die tatsächlichen politischen Verhältnisse nicht trifft. Vergleicht man mit der Situation in Deutschland, dann hatte die - nach Burger - "komplexere Vergangenheitspolitik" Österreichs ihre Wurzeln aber wohl nicht nur in der damaligen politischen Interessenslage, sondern auch in einem objektiv komplexeren historischen Befund (Opposition auf staatlicher Ebene, hoher Täteranteil, Vielfalt der Anschlußmotive), der die Etablierung einer konsistenten öffentlichen Geschichtsauffassung bis heute behindert. Ein öffentliches Geschichtsbild, das der Komplexität des historischen Befundes gerecht wird, hat sich in Österreich bis heute nicht entwickelt. Blickt man auf den Stand der aktuellen politischen Diskussion, dann sind über weite Strecken lediglich die alten 'bürgerlichen' Geschichtsverdrehungen von der ausschließlichen Opferrolle von einer neuen, sich 'fortschrittlich' verstehenden Verdrehung abgelöst worden, die Österreich selbst auf staatlicher Ebene nur noch als Täter sehen kann. Das von Burgers Kritikern proklamierte Schema von früher 'Verdrängung' und spätem Durchbruch zur historischen Wahrheit ist dagegen eine bestenfalls idealtypische Konstruktion. Das mag für akademische Zirkel stimmen; po-litisch gilt in Öster-reich allemal der Grundsatz, daß die jeweils präferierte Geschichtsauffassung sich nach der präferierten Weltanschauung richtet. Diese Ausgangslage spricht freilich nicht für zügiges Vergessen, sondern für verstärkte öffentliche Bewußtseinsbildung. In Deutschland konnte man die eigene Vergangenheit schon deshalb besser 'bewältigen', weil sich - vor dem Hintergrund einer weniger widersprüchlichen Ausgangslage - ein klarerer Befund herstellen und konsensual absichern ließ. Ein allgemein akzeptiertes Geschichtsbild, selbst wenn es schmerzlich ist, schafft politischen Frieden; daß bei historischer Ignoranz aber heute der Rückfall in die Barbarei drohe, ist mehr als fraglich. Zurecht weist Burger darauf hin, daß "die Nachfolgestaaten des dritten Reiches heute zu den historisch aufgeklärtesten und politisch stabilsten Demokratien Europas" gehören. Tatsächlich war die Reeducation, trotz anderslautender Gerüchte, eine beispiellose Erfolgsstory. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft, "die sich mit den demokratischen Vorbildern durchaus messen darf", ist dabei, wie Müller-Funke schreibt (22.6.), zweifellos auch durch die "kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte" gelungen. In Japan etwa, wo man sich den häßlichen Seiten der eigenen Vergangenheit bis in die jüngste Zeit hinein nicht stellte, leben autoritäre und rassistische Traditionen sehr viel unverblümter fort als im schwarz-blau regierten Österreich. Auch in Europa ist gelebte (d.h. nicht bloß verbale) Gewalt gegen Ausländer dort, wo - wie in der früheren DDR oder auch in Spanien --- eine autoritäre Vergangenheit nur halbherzig aufgearbeitet wurde, ein erheblich größeres Problem als in Österreich oder der ehemaligen BRD. Und Mehrheiten für tatsächlich rechtsextreme Anliegen lassen sich heute im vorgeblich liberalen Kalifornien um einiges leichter herstellen als in den Nachfolgestaaten des dritten Reichs. Plebiszite über die Todesstrafe für Kinder auch nur abzuhalten (von ihrer in Kalifornien mehrheitlichen Annahme ganz zu schweigen), wäre in Österreich undenkbar. Gegen manche Abstimmungstexte in Sachen Migration lesen sich die 12 Punkte des Ausländer-Volksbegehrens wie ein Humanistendekret. Die historische Aufklärungsarbeit, die unter der Devise 'niemals vergessen' geleistet wurde, hat ihre Spuren im politischen Bewußtsein hinterlassen und sie war erfolgreich. Ohne sie wäre die rasche Wiedereinbindung in den europäischen mainstream nicht gelungen; ein diffuses Geschichtsbild ohne öffentlichen Konsens und wirkliche Anerkennung der Verbrechen - Verhältnisse, wie man sie heute etwa in Russland findet - hätte die Europäisierung behindert und die politische Stabilität bedroht. Diese Arbeit ist heute, trotz der erwähnten Defizite, im wesentlichen geleistet, der Holocaust als fixer Bestandteil der historischen Erinnerung etabliert, und was auch immer auf individueller Ebene tatsachlich 'verdrängt' worden sein mag: Für das öffentliche Geschichtsverständnis ist das Thema 'Verdrängung' passe. Die Leistungen historischer Aufklärungsarbeit, auf vernünftige Weise betrieben, leugnet Burger nicht, auch wenn er gegen die Maxime 'niemals vergessen' polemisiert. Das 'Vergessen', für das Burger plädiert, meint weder die Tilgung des Holocaust aus Schulbüchern noch den Verzicht auf weiterführende historische Arbeit, sondern sein Verschwinden aus dem öffentlich-politischen Diskurs. Burgers conclusio ist überzogen und unnötig provokant; das Unbehagen, das sie thematisiert, ist es aber wert, ernst genommen zu werden. Denn die schamlose Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Verbrechen, ihre Ummünzung in "Kleingeld der Politik" (Burger), hat sich zu einem Argumentationsschlager entwickelt, der intellektuelle Gegenwehr erfordert. Wer die Sache, gegen die er opponiert, in eine - und sei es noch so lose - Verbindung mit dem Holocaust bringen kann, der fühlt sich im Besitz eines Diskussionsjokers, den er nicht mehr aus dem Blatt geben wird. Man empört sich über den 'Babycaust', beklagt die Existenz von 'Hühner-KZs', die A-Card mutiert zum 'Judenstern', Euthanasie- und PID-Diskussionen sind ohne NS-Rekurs so gut wie unführbar geworden. Wo auch immer ein starkes Argument gefordert ist, steht der zeitgeschichtliche Wühltisch schon bereit. Als Joschka Fischer die gar nicht undelikate Aufgabe hatte, einer von Anfang an pazifistisch gesinnten Bewegung den Kosovo-Einsatz zu verkaufen, kam nur eine Strategie in Frage: Da mußte der Holocaust her. Wie also lautete die Losung? "Nie wieder Auschwitz!" Das saß. Die Präsenz des Holocaust in der politischen Debatte zu beenden, ist weder amoralisch noch reaktionär, sondern ein Gebot sachpolitischer Vernunft. Wer aber auf die Parole 'niemals vergessen' auch hier nicht verzichten will, der ist gut beraten, ihre Anwendungsbedingungen zu präzisieren. Diese Debatte ist gänzlich ungeführt und sie ist mit einigen argumentativen Fallstricken versehen. Wer den Anfängen auch aus geringem Anlaß wehrt, der läuft Gefahr, den Warnruf abzunutzen. Lauten die Lehren aus 1933 und 1938, daß bedenkliche Rhetorik mit Regierungsausschluß sanktioniert werden muß? Oder lauten sie, daß man sich große Koalitionen besser für wirkliche Bedrohungen der Demokratie aufheben sollte? Und wie plausibel ist es wohl anzunehmen, daß solche Bedrohungen sich vornehmlich im Gewand des historischen Faschismus präsentieren werden? Politische Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik sind dort am produktivsten, wo sie sich auf die institutionelle Ebene beziehen. Der deutsche Revanchismus, die Wirtschaftskrise und die ökonomischen Folgen von Versailles, aber auch der größte Teil des deutsch-österreichischen Antisemitismus sind historisch gebundene Phänomene; und was an Autoritarismen und Vorurteilen auch heute noch vorhanden ist, ist längst keine deutsch-österreichische Erblast mehr, sondern eine sehr viel breitere westliche Problemkonstellation. Unverändert aktuell bleibt lediglich die Frage: "Wie müssen unsere politischen Institutionen beschaffen sein, um Anschläge auf die Demokratie zu verhindern?" Wer sein Urteil hier ausschließlich von historischen Mustern leiten läßt, der schafft eine tatsächliche Gefahr, die durch noch so erfolgreiche Aufarbeitung nicht aus der Welt zu schaffen ist. Auch eine vorbildlich bewältigte Vergangenheit kann blenden. Vergessen ist kein Mittel zur Problemvermeidung, Erinnern kein Garant für die richtigen Lehren Christoph Landerer, Psychologe und Publizist, arbietet derzeit an einem Forschungsprojekt an der Universität Toronto, Kanada (Gekürzte Fassung dieses Textes erschien in: DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. Juni 2001)