Sehr geehrter Herr Burger! In Ihrem "Plädoyer für das Vergessen" kritisierten Sie psychoanalytische Überlegungen zumindest in zwei Punkten: Erstens behaupten Sie, dass es weder ein kollektives Über-Ich noch ein kollektives Unbewußtes, wohl aber ein kollektives Bewußtsein gäbe, und weiters, dass ein "Schuldtrauma" als Wiederkehr des Verdrängten nicht nachweisbar sei. Ihre erste Behauptung paßt zur Tradition des Österreichischen Rechtspositivismus als Legitimationsfigur eines autoritären Staatsverständnisses. Demnach handelt ein Kollektiv - und der Staat ist wohl die wichtigste Erscheinungsform des Gesellschaftlichen - durch seine verfassungsmäßig bestimmten Organe stets rational und richtig. Die Motive staatlichen Handelns sind unhinterfragbar, sie kennen weder unbewußte Konflikte noch Interessen. Sie bedürfen keiner Reflexion und gewissensmäßigen Befragung. Der Staat und seine Organe handeln stets problembezogen und zukunftsorientiert, usw. Die Konsequenzen dieser Denkfigur sind bekannt und weitverbreitet - übrigens bei allen politischen Parteien. Weder die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich und schon gar nicht die Nachkriegsgeschichte unseres Landes haben diese Grundhaltung der Politik und Verwaltung wirklich verändert. Aus psychoanalytischer Sicht hingegen folgt aus der Annahme eines kollektiven (besser gesellschaftlichen) Bewußtseins die Annahme eines gesellschaftlichen Unbewußten, um die vielfältigen Ausdrucksformen in den Gesellschaften als konflikthafte verstehbar zu machen. Dazu gehört z.B. die Unfähigkeit zu trauern. Um sich dem mühsamen doch lohnenden Weg der Suche nach den Ursachen dieses Konflikts zu entgehen brachten Sie nun die Behauptung von einer "Unmöglichkeit zu trauern" in die Diskussion. Der nächste Vorschlag wird das Verbot sein, in der Öffentlichkeit zu trauern. Zu Ihrer zweiten Behauptung möchte ich vorerst festhalten, dass es keine ernst zu nehmenden Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker gibt, die ein Schuldtrauma für schicksalshaft und umgekehrt Erinnern und Trauern als Garant für ethisch richtige Entscheidungen im persönlichen und politischen Angelegenheiten betrachten. Der Kern der psychoanalytischen Auffassungen in diesem Zusammenhang ist vielmehr, dass das "Über-Ich" als Regulationsinstanz unseres Handelns sich stets auf erinnertes und nicht erinnertes Vergangenes bezieht. Darf ich das anhand meiner Praxis bei der Betreuung von Menschen, die schwerste Verbrechen begangen haben, erläutern. Dabei entdeckte ich nach und nach, dass ich als am Verbrechen unbeteiligter Dritter auf drei Aspekte achten muß: a. Erinnern des Verbrechens geschieht nur in dialogischen Situationen. Nur hier finden Täter und unbeteiligter Dritter die Möglichkeit vor, (unbewußte) Phantasien an- und auszusprechen, da keiner der beiden fürchten muß, deshalb verurteilt zu werden. Erste dann können beide gemeinsam die Entstehungszusammenhänge erforschen. b. Der unbeteiligte Dritte muß die Möglichkeit für Zweifel und Verzweiflung schaffen, indem er den Täter mit seinen Verbrechen konfrontiert. Dem folgt die Erkundung des Zusammenhangs von Widerstand gegen das Erinnern, von Motiv und Abwehr. Ein Täter, auf sich allein gestellt, tendiert stets dazu, die Tatsache seiner Aggression zu leugnen: "So etwas mache ich nicht, das kann ich nicht gewesen sein." Aber auch mit den Motiven für Wiedergutmachungshandlungen muß der Täter konfrontiert werden: "Da ich die Tat wieder gut gemacht habe, ist sie auch nicht geschehen!" c. Nicht zuletzt muß sich der unbeteiligte Dritte mit seinen Vergeltungs- und Rachephantasien, seiner Identifikation mit dem Aggressor und der Abwehr gegen diese auseinandersetzen. Vermeidet er dies, verfällt er dem Manichäismus der "Aufdecker". Entwicklungen in einer Gesellschaft beruhen auch auf den Gesetzmäßigkeiten von Großgruppen ("Massen"), was u.a. bedeutet, dass sich jede Gesellschaft schwer tut, sich mit Zerstörungsakten ihrer Mitglieder und Repräsentanten im Erinnern auseinander zu setzen. Doch dieser Versuch ist zumindest aus zwei Gründen notwendig: einerseits, um sich aus der eigenen Sackgasse herauslösen zu können und andrerseits, um es den Opfern zu ermöglichen, die Tatsache ihrer Traumatisierung zu begreifen und sich aus der Identifikation mit dem Aggressor zu lösen. Wenn es um Verbrechen und Sühne geht, lohnt es sich in jedem Fall bei Dostojewski nachzulesen. Auf die Frage an Fedor Karamasow, warum er seine Opfer hasse, antwortete dieser: "Er hat mir nichts getan, das ist wahr, aber dafür habe ich ihm eine gewissenlose Gemeinheit angetan und kaum war es geschehen, da hasste ich ihn auch schon gerade deswegen." Mehr noch als Ihre Argumente gegen psychoanalytische Auffassungen hat mich Ihr aggressiver Argumentationsstil nachdenklich gemacht. Klaus Posch ist Psychoanalytiker in Graz