Statistiken zufolge werden nirgendwo in der Welt so viele Videobilder aufgezeichnet wie mit den allerorts installierten Überwachungskameras. Ein gigantischer Aufwand wird betrieben für automatisierte Alltagsaufnahmen, deren Produzenten nur auf eines warten: den Ernstfall. Abweichungen von der Norm (z. B. Banküberfälle), deren Verursacher (die Bankräuber) dann mithilfe der Überwachungsbilder dingfest gemacht werden. Eines dieser Bilder (siehe links) kursiert dieser Tage wieder in den internationalen Agenturen: Am 12. Februar 1993 wurde der zweijährige James Bulger von seiner Mutter bei einem Einkauf in einem Supermarkt in Liverpool kurzfristig nicht beaufsichtigt. Zwei zehnjährige Knaben nützten - dokumentiert von der automatischen Kamera - die Gelegenheit und entführten das Kind. In einer Bildbeschreibung könnte man entlang der folgenden Ungeheuerlichkeit sagen, dass Robert Thompson, Jon Venables und ihr Opfer, die hier nur als Schemen wahrnehmbar sind, in eine gigantische Bildstörung eintraten. Keine Bildaufzeichnungen existieren nämlich von den Zeugen der Entführung, die dieselbe, wie später bekannt wurde, stillschweigend als alltägliche Rangelei abtaten - und nicht einschritten. Und die weitere Tragödie ist nur in polizeilichen Fotos und Berichten dokumentiert: Thompson und Venables steinigten Bulger, gaben ihm schließlich laut eigener späterer Aussage "mit einer Eisenstange den Rest", sprühten dem Kind kurz vor dem Tod noch Lackfarbe in die Augen und ließen den Leichnam schließlich auf einem Bahndamm liegen, wo er von einem Zug überrollt wurde. Dies sind gewissermaßen die Berichte aus dem Off - auf die kaum Analysen der verwahrlosten Lebensumstände der Kinder folgten. Stattdessen: spektakuläre Emotion, spekulative Berichte. Eine riesige Trauergemeinde vor einem Kindergrab. Tobende Menschen, die die Polizeistation und später das Gericht stürmen wollten, um Thompson und Venables "das zu geben, was sie verdient haben". Im November 1993 vermeldeten sie "die jüngsten verurteilten Mörder der britischen Kriminalgeschichte". Wie verhält es sich dagegen mit nebenstehendem Automatenbild aus einem Supermarkt in Liverpool, der heute noch einer der wenigen "Spielplätze" für Kindheiten zwischen Zerrüttung und sozialer Chancenlosigkeit ist? Diese Frage sorgt in England jetzt für öffentlichen Furor, als bekannt wurde, dass Thompson und Venables dieser Tage auf freien Fuß gesetzt werden - ausgestattet mit neuen Identitäten, an Wohnorten, die nur den Bewährungshelfern bekannt sein sollen. In den britischen Medien hat diese Ankündigung eine beispiellose Hetzjagd eingeläutet. Erneut beginnt der Krieg der starken Bilder und Ansagen. Schon kündigen Zeitungen an, die neue Identität der Mörder zu recherchieren und notfalls mit Bildmaterial zu belegen. Wieder wird James Bulgers Mutter, die verständlicherweise "Hass, Wut, Angst" empfindet, zur Rachegöttin stilisiert. Wieder interviewen TV-Teams Passanten in Liverpool, die "denen da demnächst gerne geben würden, was sie verdienen". Aber was verdienen diese zwei seit diesem 12. Februar permanent Überwachten wirklich? Der Psychologe Ian Stephen meinte kürzlich: "Ironischerweise werden diese beiden Jungen, die jetzt im Gefängnis acht Jahre lang angehalten wurden, ehrlich zu sein, ihr weiteres Leben in einer permanenten Lüge verbringen müssen. Weil Unehrlichkeit über ihre wahre Identität ihre einzige Überlebenschance ist." Im erbarmungslosen Überwachungsblick der neuen Medienwelt sind sie dazu verurteilt, Schemen zu bleiben. (DER STANDARD, Printausgabe vom 27. 6. 2001)