Wien - Der neue Präsident der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft (LBG), Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad, fordert "die Aufarbeitung der Rolle der Wissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus und der Verbrechen, die unter dem Vorwand der Forschung begangen wurden". Im Zusammenhang mit der kürzlich publizierten Verflechtungen der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft mit dem NS-Psychiater Heinrich Gross bittet Konrad in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung "im Namen der Wissenschaft - Verzeihung für das zugefügte Leid". Anlass für Konrads Erklärung ist das kürzlich erschienene Buch "In den Fängen des Dr. Gross", in dem die Rolle des Bunds Sozialistischer Akademiker (BSA) und der Boltzmann-Gesellschaft im Fall Gross aufgearbeitet wird. Für den NS-Psychiater war 1968 ein eigenes Boltzmann-Institut eingerichtet worden, dessen Hauptaufgabe die Aufarbeitung der Präparate von Spiegelgrund-Opfern war. Dass die Aufarbeitung der Rolle der Wissenschaft in der NS-Zeit in der Vergangenheit nicht oder nur in unvollständiger Weise geschehen sei, müsse heute als beschämender und untauglicher Versuch gewertet werden, das Unfassbare auch weitgehend unausgesprochen zu lassen, meinte Konrad. "Dieser Umstand erhöht aber unsere Verpflichtung zu gewissenhafter Analyse, zu eindeutigen Aussöhnungsschritten und zu unmissverständlichen Positionierungen." Für den LBG-Präsidenten sind alle diesbezüglichen Anstrengungen gerechtfertigt, denn das dunkelste Kapitel unserer Geschichte werfe Schatten auf die Zukunft, sollten wir nicht fähig sein, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Dazu bedürfe es mehr als nur einer, noch so tief empfundenen Betroffenheit. Konrad: "Unabhängig von noch möglichen, sehr schmerzhaften und bedrückenden Ergebnissen eines derartigen Ausleuchtens der Rolle der Wissenschaft vor 60 Jahren - und in den Folgejahren -, möchte ich als Präsident der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft und aus gegebenem Anlass ersuchen: 'Im Namen der Wissenschaft - Verzeihung für das zugefügte Leid!'." Der Fall Gross Christian Konrad hält den Versuch, "jene Phänomene zu klären, die den Verlust jedes ethischen, moralischen und die Menschenwürde respektierenden Anspruchs an wissenschaftliches Handeln ermöglichen", als vielleicht noch bedeutender, als die Entdeckung weiterer Dokumente über Greueltaten in der NS-Zeit oder neuer NS-Euthanasie-Beweise. Dennoch sei es wichtig, Versäumnisse im historisch dokumentierten Wissen über Geschehnisse in dieser Zeit gut zu machen. Dies hält Konrad für eine der Aufgaben der neu eingesetzten Bio-Ethikkommission der Bundesregierung. Institutionen, wie die Ludwig Boltzmann Gesellschaft, die über den Namen eines Arztes und ehemaligen Institutsleiters (Heinrich Gross, Anm.) indirekt in die Nähe von unerträglichen und unentschuldbaren Vorkommnissen während der NS-Zeit gerückt worden sei, würden den Beitrag zu leisten haben, der für eine abschließende Aufarbeitung der Rolle der Wissenschaft während des Nazi-Regimes erforderlich sei. Die Fassungslosigkeit über das Leid von Opfern und Angehörigen, über Folterungen und "wissenschaftlichen Versuchen" an Kindern wie an Erwachsenen, müsse heute zu konkreten Schritten veranlassen, so Konrad. Auch und gerade jene, die keine persönliche Schuld auf sich geladen hätten und denen die Gnade der späten Geburt gewährt sei. Die Boltzmann-Gesellschaft fordere und fördere daher jede Bemühung, die der historischen Wahrheit dient, "aber auch eindeutige Gesten". Konrad drängt daher namens der Boltzmann Gesellschaft darauf, dass endlich die rechtlichen Voraussetzungen für die Aberkennung des an Gross verliehenen Ehrenkreuzes (für Wissenschaft und Kunst, Anm.) geschaffen werden. Außerdem fordert Konrad, die damalige Rolle der Wissenschaft in Österreich zum Gegenstand einer Studie zu machen, die die Ethikkommission in Auftrag gebe. "Wir tragen die Verantwortung für schonungslose Aufklärung und Offenheit gegenüber der Vergangenheit. Ebenso tragen wir aber auch Verantwortung dafür, dass ethische und moralische Anforderungen an Wissenschaft und Forschung zu jeder Zeit aktualisiert werden", so Konrad in der Erklärung. (APA)