Wien - Das Unterrichtsjahr ist - zumindest in Ostösterreich - seit heute zu Ende, die Bildungsdebatte jedoch nicht. Mit dem Wunsch nach einer "radikalen inhaltlichen Erneuerung des Schulwesens" meldet sich der Klubchef der Wiener Grünen, Christoph Chorherr, zu Wort. "Kein gesellschaftlicher Bereich hat eine Veränderung so nötig wie die Bildung", meint er in einem Standard-Gespräch. "Schule - das bedeutet Klassenzimmer, 30 Sessel, man lässt sich gelangweilt oder vielleicht angstvoll berieseln, und alle fünfzig Minuten läutet die Schulglocke wie vor hundert Jahren", kritisiert Chorherr. "In keinem einzigen Unternehmen würde Lernen so definiert. Außerdem tun wir so, als wäre klar, was man in 50 Jahren wissen muss."
Und wie schaut sein Gegenentwurf aus? Beispiel Sprachen: Allen Schüler müssten Sprachlernwochen in anderen Ländern garantiert werden. Chorherr fällt dazu ein Spruch des Schriftstellers Hans Magnus Enzenberger ein: "Jeder Mensch zwischen fünf und achtzig Jahren lernt innerhalb weniger Monate eine Sprache - es sei denn, er geht in die Schule."
Der Unterricht müsste insgesamt anschaulicher und fächerübergreifend gestaltet werden. In Mathematik könnten die Schüler zum Beispiel auch mal angewandte Statistik betreiben. "Konkretes Tun" statt "sitzen und zuhören" bringe mehr Lernerfolge. Warum sollte nicht der Geographie- gemeinsam mit dem Geschichte- und dem Biologielehrer ein Projekt entwickeln und mit Schülern acht Wochen durch Österreich radeln, fragt Chorherr. Wichtiger als das Vermitteln fixer Lehrinhalte sei das prinzipielle Wecken von Interesse.
Stärken entdecken
Chorherrs Vorstellungen sind in das ein Jahr alte Wiener Privatschulprojekt "w@lz" eingeflossen, das mit der 10. Schulstufe beginnt (und mit Externistenmatura abgeschlossen werden kann). Fixierte Unterrichtseinheiten gibt es hier nicht mehr, "Mentoren" statt herkömmlicher Pädagogen begleiten die Entwicklung der Schüler. Auf Fremdsprachen und Ausdrucksfähigkeit wird großer Wert gelegt. Auch darauf, die eigenen Stärken zu entdecken. Denn das vermittle das herkömmliche Schulwesen kaum, findet der Grünen-Politiker. Daher sei es kein Wunder, dass sich viele Jugendliche nach der Matura verwirrt fragen: "Was kann ich eigentlich, was will ich machen?"
Dass Schüler nur erschreckend geringes Interesse an Politik haben, findet Chorherr verständlich: "Wo haben sie denn in der Schule Mitgestaltungsmöglichkeiten erlebt?"
Die Schule in ihrer jetzigen Form sei veränderungsunwillig, obwohl sie ja auch selbst eine "lernende Einheit" sein müsste. Deswegen fände Chorherr mehr Schüler-Feedback für Lehrer hilfreich. "Schule muss sich verändern." Er wünscht sich eine "radikale Bildungsdebatte" und prophezeit: "Bildung wird eines der Megathemen der nächsten zehn Jahre sein." (DerStandard,Print-Ausgabe,29.6.2001)
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