Haben die architektonisch aufregenden Museumsbauten der vergangenen Jahrzehnte die Kunstszene verändert, oder sind sie vielmehr Produkt einer veränderten Kunstszene? Und bleibt zwischen schiefen Wänden und in schrägen Raumschluchten eigentlich noch Platz für die Kunst? Ute Woltron versucht einen Abriss des Diskurses zwischen Künstlern und Architekten.


Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung", schrieb Walter Benjamin im Jahr 1936: "Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt." Benjamin bezog sich mit seinem Zitat bekanntlich auf "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", doch lässt es sich ohne weiters heute auf das Medium Ausstellungshaus im Zeitalter des internationalen Museumsbooms umlegen.

Das Museum ist zur Spielwiese und zum Laboratorium für innovatives Architektur-Allerlei geworden. Nicht nur die Häuser, auch die Ausstellungskonzepte erfuhren seit den 60er-Jahren radikale Wandlungen, was natürlich in Zusammenhang steht, und es hat sich auch die "Art und Weise der Sinneswahrnehmung" der menschlichen Kollektive innerhalb kürzester Zeit stark verändert.

In den vergangenen dreißig Jahren wurden weltweit mehr Museen eröffnet als es bis dato überhaupt gab. Allein unter der Regentschaft des Fran¸cois Mitterand, Europas regstem Bauherren der jüngeren Vergangenheit, sperrten in Frankreich 400 neue oder frisch restaurierte Kunsttempel ihre Portale auf, in den USA entstanden ab 1970 über 600 neue Kunstmuseen. Die Architekturhistorikerin Victoria Newhouse recherchierte für ihre Publikation über Museumsarchitektur im 20. Jahrhundert, Wege zu einem neuen Museum, dass innerhalb eines Jahres allein in Amerika über eine Million Menschen in die diversen Kunsttempel pilgert, in Europa gibt es bevölkerungsanteilig etwa eben so viele Museumsbesucher.

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In Österreich, das traditionell ein Land vieler, allgemein allerdings eher rückwärts gewandter Kunst- und Kulturhäuser ist, übergibt man dieser Tage mit dem Museumsquartier in Wien einen der größten Kulturbezirke Europas feierlich der Öffentlichkeit. DER STANDARD hat darüber in der vergangenen Woche intensiv berichtet. An den neuen Gebäuden der Architekten Ortner&Ortner und den dazugehörigen denkmalpflegerischen Eingriffen im Areal der ehemaligen kaiserlichen Hofstallungen von Manfred Wehdorn entzündeten sich nun verschiedenste Architekturdebatten. Eine davon ist museal-architektonischer Natur und wird nicht immer ganz sauber abgehandelt. Die neuen Museen der Brüder Ortner - das weiße Museum Leopold, das schwarze Museum moderner Kunst, sowie die Kunsthalle im roten Ziegelkleid - so behaupten die MQ-Gegner, seien in ihren starren Raumkonzepten reaktionär, ungeeignet für den heutigen Kunstbegriff sowie dessen Produkte und insgesamt als ein bedauerlicher Schritt in die Vergangenheit zu sehen.

Um diese Feststellungen auf ihren Wahrheitgehalt überprüfen zu können, bedarf es einer ausgedehnten historischen Wanderung durch die baulich aufregenden Museumsmaschinen der Jetztzeit, durch die Pinakotheken und Galerien der Vergangenheit bis hin zu den Kuriositätenkabinetten der Renaissance, die heute als Keimzelle für Museen jeder Art angesehen werden. Diverse Fragen müssen beantwortet werden: Welche Aufgabe hatten Sammlungen, Museen, Ausstellungshallen früher, welche haben sie heute? Welche treibenden Kräfte bestimmen Standort, Bespielung, innere und äußere Gestalt? Welche Rolle spielt in diesem komplizierten Mix aus Bedürfnissen, Anliegen, Aufgaben eigentlich die dazugehörige Architektur? Und inwieweit

steht heute noch die Kunst per se im Vordergrund?

Die heftigste Kritik am momentanen Museumsboom, vor allem an den von internationalen Kunstkonzernen wie Guggenheim perfekt vermarkteten architektonischen Sensationen und gelegentlich auch Eskapaden, kommt tatsächlich von Seiten der Künstler, die diese Häuser bespielen, und die sich häufig von den Architekturgewalten überrollt und missverstanden fühlen. Das Kunsthaus Bregenz hat unlängst die kritischen Stimmen zu einer hochinteressanten Doppelpublikation zusammengefasst. Im Band Museumsarchitektur werden teils verwirklichte, teils idealtypische Projekte von KünstlerInnen vorgestellt, im Band Das Museum als Arena sind "institutionskritische" Texte gebündelt. So beklagte Markus Lüpertz bereits 1985, also noch lange vor den aufsehenerregenden Architekturskulpturen eines Frank O. Gehry, einer Zaha Hadid oder eines Daniel Libeskind, den Drang der Architekten, mit neuen Museumshäusern zugleich auch Kunst bauen zu wollen. Die Architektur, so wetterte der deutsche "Malerfürst", bediene sich der Brutalität des Kunstwerks, um eine eigene, elitäre, auch unmenschliche, romantische Vorstellung realisieren und verkaufen zu können. "Mit künstlerischem Anspruch vernebeln heutzutage Architekten meistens die Tatsache, ihre Notwendigkeit verloren zu haben", urteilte Lüpertz und beklagte: "Das klassische Museum ist gebaut, vier Wände, Oberlicht, zwei Türen, eine zum Reingehen, eine zum Rausgehen. Dieses einfache Prinzip musste leider der Architekturkunst weichen."

Ganz ähnlich argumentieren viele Kollegen wie etwa die kalifornische Malerin Marcia Hafif und die deutsche Künstlerin Katharina Fritsch. Für Walter Pichler, der sich die Häuser, oder besser Räume, für seine Skulpturen selbst zu bauen pflegt, sind Museen "Bezugspunkte in jeder Stadt, so eine Art Heimat". "Im Prinzip", meinte er 1988 im Gespräch mit Christian Reder für die Wiener Stadtzeitung Falter, "ist eine Halle notwendig, in der du einfach alles aufführen kannst, mit jeder Möglichkeit der Technologie. Es muss jede Art von Beleuchtung möglich sein, vom Tageslicht bis zu ausgeklügelten Systemen, es muss möglich sein, Wände hinein zu mauern, das Klima muss stimmen, man muss den Boden streichen oder verändern können."

Die derzeit selbst bei Museumsmuffeln so populären Kunsttempelaufreger, wie etwa das Titanschuppenungetüm Gehrys in Bilbao, erfüllt diese Bedingungen mit seinen komplizierten Innenräumen, die den Betrachter wie begehbare Raumskulpturen umfassen, wohl nicht. Häuser wie diese haben aber andere, ausgezeichnete Talente. Peter Weibel führt den Argumentationskreis für oder wider solche Häuser in seinem hervorragenden Essay Quantum Daemon. Institutionen der Kunstgemeinschaft elegant zu Benjaminschen Thesen zurück. "Jede Architektur, jede Präsentation", so behauptet er, "diktiert bestimmte Formen des Genießens und Erkennens." Weibels Schlussfolgerung lautet: "Bei Räumen für Kunst und bei Kunstausstellungen geht es also um mehr als bloß um eine Architektur-Debatte: Wenn Kunst eine Instanz der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ist, dann geht es im Grunde beim Museumsdiskurs um die Funktionsweise und Struktur der Gesellschaft selbst."

Das war freilich von Anbeginn so. Die Geschichte des Museums setzt mit den privaten Kuriositätenkabinetten betuchter Renaissancefürsten ein, die mit ihren schauerlichen, schönen, absonderlichen Exponaten nichts anderes als zu Stimmungserzeugern zusammengestoppelten Sammlungen waren. Auch die Kunstkammern und Galerien des Adels waren stets Privatvergnügen und nie öffentlich zugänglich, ebenso die Schatzkammern des Klerus. Laut Newhouse sind die meisten großen Kunstmuseen von heute aus Privatsammlungen dieser Art hervorgegangen. Ihre Geburtstunde schlug, als mit der Französischen Revolution im Jahr 1793 auch die königliche Kunstsammlung im Louvre für das Volk geöffnet wurde.

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Die längste Zeit wurde Kunst in stillen weihevollen Hallen mit feierlicher Inbrust und im Flüsterton zelebriert. Erst in den 50er Jahren zerschmetterte Frank Lloyd Wright mit seinem spiralförmig in den Stadtraster Manhattans gebohrten Guggenheim-Architekturskulptur aufmüpfig dieses schöne Bild. Die Kunstbewegungen der 60-er Jahre begannen sich Künstler und Künstlergruppen der Bevormundung der Kunstinstitutionen zu verweigern. Für Allan Kaprow war das Museum 1967 "ein verknöchertes Überbleibsel aus einer anderen Epoche", die Guerilla Art Action Group forderte gleich den "sofortigen Rücktritt aller Rockefellers aus dem Vorstand des Museums of Modern Art". Renzo Piano und Richard Rogers antworteten in den 70ern in Paris mit ihrem Centre Pompidou auf die neuen Stimmen und Kunstströme, sie zelebrierten mit einer regelrechten Museumsmaschinerie das Weihevolle der Technologie und Maschinerie. Das aufsehenerregende Haus kann als Kristallisationspunkt für ein neues Museumszeitalter angesehen werden, in dem die Unterhaltung eine wichtige Rolle spielt. Bilbao gehört hier genau so dazu wie etwa das aufregende Musée des Confluences, das Coop Himmelb(l)au für Lyon entworfen haben, oder das in Bau befindliche Rosenthal Center for Contemporary Art von Zaha Hadid für Cincinnati. Spektakulär dürfte auch Daniel Libeskinds Imperial War Museum in Manchester ausfallen und sein Galeriezubau an das Londoner Victoria & Albert Museum.

Der Museumsbesuch ist für viele heute zum Zeitvertreib geworden, das Museum zum Konsumgut. Der Abstecher in den Museumsshop und das Erwerben vermeintlich kunstträchtiger Mitbringselobjekte befriedigen die allgemeine Konsumwut und sättigen den Kommerzhunger der Museumsbetreiber. "Zur Logik des Spätkapitalismus, der ein multinationaler, auf elektronischer Produktion aufgebauter Kapitalismus ist, gehört die universale Verwandlung von allem in Ware, auch der Kunstwerke", schreibt Peter Weibel, und er meint das durchaus kritisch. Doch abseits der Populärkunstmaschinen entstehen nach wie vor klassische, hochinspiriert und teils magisch schön in die Architektursprache von heute übersetzte Kunsthäuser, die die Sache etwas ruhiger angehen. Das Kunsthaus Bregenz von Peter Zumthor ist ein Beispiel dafür, das Kunstmuseum Liechtenstein von den Architekten Morger, Degelo, Kerez, oder das O-Museum von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa in Japan. Auch Mischformen wie Steven Holls Museum of Contemporary Art in Helsinki kommen vor.

Das Museum gibt es heute also nicht mehr, man könnte, wie Rem Koolhaas von den "vielen Wahrheiten der Architektur", von den vielen Wahrheiten der Museen sprechen. Jedes hat seine eigene, charakteristische Aura, seine Originalität, die, laut Benjamin, sowohl subjektiv als auch objektiv vorhanden ist. Das stille besinnliche vor sich Hinschlurfen hat die selbe Berechtigung wie das "erlebnistrunkene Wandern von Schauraum zu Schauraum" (Weibel). Museen für dieses wie jenes dürften zur Genüge vorhanden sein.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30. 6. / 1. 7. 2001)