Wirtschaft
Wirtschaftsforscher: Ost und West trennen Jahrzehnte
Selbst unter optimistischen Annahmen wird nur Slowenien bis 2015 den EU-Kaufkraft-Durchschnitt erreichen
Wien - Von der schwächelnden Konjunktur in der Europäischen Union dürften die
osteuropäischen Beitrittskandidaten trotz der enormen gegenseitigen Handelsverflechtung weitestgehend verschont
bleiben, steht in der neuesten
Prognose des Wiener Instituts
für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).
Ernsthafte wirtschaftliche
Schwierigkeiten würden die
Oststaaten erst bekommen,
sollte sich der Konjunkturabschwung in der EU zu einer
echten Rezession auswachsen
- was derzeit nicht in Sicht ist.
Die Erfüllung der Forderung
des ÖGB und der Arbeiterkammer, Österreichs Arbeitsmarkt erst für die EU-Beitrittswerber zu öffnen, wenn
das Lohnniveau 80 Prozent
des österreichischen erreicht
hat, würde mehrere Jahrzehnte erfordern, geht aus der Studie hervor. "Der Aufholprozess im Osten wird noch viele
Jahre, wenn nicht Dekaden
dauern", sagte der stellvertretende WIIW-Chef Peter Havlik
bei der Prognose-Präsentation.
Selbst unter der wahrlich
optimistischen Annahme,
dass das durchschnittliche
Bruttoinlandsprodukt der sieben Beitrittskandidaten bis
2015 jährlich um zwei Prozent
schneller wächst als der EU-Durchschnitt, schafft es nur
Slowenien, den EU-Kaufkraft-Durchschnitt zu erreichen.
Der Abstand gegenüber Österreich würde auf 13 Prozentpunkte schrumpfen. Tschechien, der wirtschaftlich
zweitstärkste Beitrittskandidat, wird in dieser Hochrechnung bis 2015 gerade 78 Prozent des EU-Durchschnitts
oder rund 70 Prozent des heimischen Niveaus erreicht haben. Von den übrigen Kandidaten liegt nur noch Ungarn in
diesem Spitzentrio. Polen, die
Slowakei, Bulgarien und Rumänien sind weit abgeschlagen.
Steigende Arbeitslosenrate
Eines der Hauptprobleme
im Osten bleibt die meist
zweistellige und steigende
Arbeitslosenrate. Da nun auch
in Deutschland und Österreich die Arbeitslosigkeit wieder ansteigt, befürchtet Havlik
eine zunehmende Erweiterungsskepsis in West und Ost.
Leistungsbilanzdefizite
Neben der hohen Arbeitslosigkeit gelten gemessen am
Bruttoinlandsprodukt die
durchschnittlich fünfprozentigen Leistungsbilanzdefizite
in den Reformstaaten als Klotz
am Bein des Aufholprozesses.
Wegen der kräftigen Währungsaufwertungen, zuletzt in
Ungarn, wird wieder mehr
importiert, die Exporte in die
EU verteuern sich. Die Inflation sei hingegen weitgehend
unter Kontrolle.
Profitieren können die Staaten Mittel- und Osteuropas
vom ausländischen Investitionsfluss, etwa in den Bankensektor, und vom niedrigen
Lohnniveau, auch wenn sich
die Lohnstückkosten-Position
gegenüber Österreich zuletzt verschlechtert hat. Als international wettbewerbsfähige
Branchen nannte Havlik die
Optik- und Autoindustrie.
Wirklich notleidend sind die
Lebensmittel-, Textil- und
holzverarbeitende Industrie
im Osten.
Binnennachfrage
Gestützt wird die Konjunktur im Osten durch die starke
Binnennachfrage und durch
die ersten Früchte der eingeleiteten Strukturreformen.
Dort, wo die Kostenvorteile
gegenüber dem Westen noch
voll ausgespielt werden können, seien heuer und 2002 sogar Marktanteilsgewinne der
Oststaaten in der EU gegenüber ihrer westlichen Konkurrenz zu erwarten. Wachstumsverlangsamungen in einzelnen Ländern, wie etwa in
Polen und Russland, seien auf
interne Faktoren (Hochzinspolitik, Währungsaufwertungen) zurückzuführen.
Katastrophal ist die wirtschaftliche Situation in Jugoslawien. Die Arbeitslosenrate
liegt je nach Datenlage zwischen 30 und 50 Prozent. Die
Preissteigerung wird heuer 70
Prozent ausmachen. Die Auslandsverschuldung wird derzeit auf 195 Milliarden Schilling geschätzt. (miba, DER STANDARD, Printausgabe 6.7.2001)