Inland
Grüne im Mainstream der Sozialdemokratie? - von Wilfried Graf
Zur Debatte um den "offiziellen" Programmentwurf
Samo Kobenter hat die beiden Entwürfe für ein Grundsatzprogramm der Grünen, die am Parteikongress am 7./8. Juli zur
Diskussion stehen, sehr gegensätzlich charakterisiert: Der "offizielle" Entwurf sei "seltsam farblos und uninspiriert", der
Alternativentwurf zwar "als historische und soziologische Analyse exzellent", als politische Handlungsanleitung hingegen "naiv bis
illusionistisch" (STANDARD, 22. Juni).
Tatsächlich konzentriert sich sich der Alternativentwurf auf die langfristigen Visionen der Grünen. Naiv bis illusionistisch können sie
nur wirken, wenn sie als ein Wahl-oder Regierungsprogramm gelesen werden. In einem Grundsatzprogramm muss es hingegen -
gerade in Hinblick auf ein rot-grünes Reformprojekt - um eigenständige Zielhorizonte gehen.
Integrativer Ansatz
Der Alternativentwurf schlägt einen integrativen Denkrahmen vor, um die vielfältigen grünen Ansätze in einen Dialog zu bringen: die
ökologische Systemwissenschaft, den Öko-Marxismus, die "personalistischen" Ansätze wie Linkskatholizismus,
Menschenrechtsbewegung, Konstitutionalismus u. a. Er plädiert deshalb für zwei große Zielhorizonte: zum einen für die
Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse und zum anderen dafür, dies auf ökologisch verträgliche Weise sicherzustellen.
Ein solcher Gesellschaftsentwurf zielt nicht mehr nur auf nachhaltige Entwicklung, sondern auf eine radikal konzipierte Demokratie;
ein ökologisches Zusammendenken von Selbstbestimmung und Solidarität auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen.
Davon ausgehend skizziert er vier Leitideen eines grünen Gesellschaftsentwurfs: erstens eine grüne Vision von Ökonomie und
Entwicklung, bei der nicht mehr allein die Güterverteilung oder das Eigentum an Produktionsmitteln zur Debatte stehen, sondern
Ausrichtung, Ziele und Struktur der industriellen Gesellschaft selbst.
Neuorientierung
Zweitens eine grüne Vision von Sozialstaat und Arbeitsgesellschaft: Im Vordergrund steht nicht mehr der sozialpartnerschaftliche
Kompromiss auf Basis der "Fabriksgesellschaft", sondern die Verwirklichung einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe der Frauen,
der Arbeitslosen und Ausgeschlossenen durch eine Neuaufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit.
Drittens eine grüne Vision von Staat und Zivilgesellschaft in Österreich und Europa: Das Ziel einer bloßen Partizipation und
Mitbestimmmung wird ersetzt durch das Ziel gemeinsamer Selbstorganisation, das sich von einer ökologischen
Wirtschaftsdemokratie über einen europäischen Föderalismus von unten bis zu einer globalen Bürgerschaft erstreckt.
Viertens eine grüne Vision von Weltzivilisation und Friedenssicherung: Einer ungehemmten Globalisierung der Märkte und einer
unipolaren Weltmilitärordnung wird ein lokal verankerter "sanfter Internationalismus" entgegengesetzt, der eigenständige
Entwicklungsmodelle und friedenspolitische Vielfalt respektiert.
Vielfalt unerwünscht?
Dieser Alternativentwurf kommt keineswegs überraschend. Er basiert auf jahrelanger Programmarbeit seit 1994, die nach einem
turbulenten Programmkongress in Graz 1997 zu einem kreativen Lernprozess führte, unter Einbeziehung namhafter europäischer
Vordenker/innen. Wesentliche theoretische Anstöße kamen etwa vom EU-Abgeordneten Alain Lipietz, der jüngst zum
Präsidentschaftskandidaten der französischen Grünen gewählt wurde.
Der offizielle Programmentwurf reduziert den grünen Gesellschaftsentwurf demgegenüber auf das Leitbild der "Nachhaltigkeit" und
ersetzt damit die Vielfalt des grünen Projekts durch einen "ganzheitlichen" Öko-Systemismus. Obwohl der Neoliberalismus
kritisiert wird, um auch einige Linke zufrieden zu stellen, müssten Öko-Linke, Linksliberale und Radikaldemokraten angesichts
dieser Gesamtausrichtung des Konzepts das grüne Projekt eigentlich verlassen. Denn einerseits wird damit der Zielhorizont der
Überwindung sozialer Ungleichheit der Nachhaltigkeit untergeordnet; was de facto nur eine liberale Minimalgerechtigkeit
ermöglicht. Andererseits wird der Zielhorizont einer radikaldemokratischen Selbstorganisation fallen gelassen - zugunsten bloß
partizipativer Demokratie und Mitbestimmung.
Armer Van der Bellen
Ein solcher Gesellschaftsentwurf geht - abgesehen vom Prinzip der Nachhaltigkeit - über den gegenwärtigen sozialdemokratischen
Mainstream kaum hinaus und ist insofern auch keine geeignete Weichenstellung für ein rot-grünes Reformprojekt.
Die Grünen und Alexander Van der Bellen haben sich jedenfalls ein besseres Grundsatzprogramm verdient - und können es immer
noch bekommen. Dazu braucht es gar keinen grünen "Streit", sondern nur eine konstruktive Kombination der vorliegenden Entwürfe
und Anträge beim kommenden Bundeskongress.
Gelingt das, könnte dieser Kongress den Beginn einer eigenständigen Ideenpolitik markieren, die die Grünen dann tatsächlich zum
Motor einer vielfältigen Reformmehrheit machen kann, jenseits aller Boulevard-Spekulationen um Minister/innenlisten und
Ressort-Arithmetik. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 6. 7. 2001)