Patchworker gestalten ihr Leben freier und anders. Eine umfangreiche Studie der Züricher Vontobel-Stiftung versucht, die Arbeits- und Lebensformen der näheren Zukunft zu beleuchten.
Nichts ist mehr wie früher. Die Sicherheit des traditionellen Industriearbeitsplatzes ist futsch. 16 Jahre lang Massenarbeitslosigkeit erfordern ein radikales Umdenken der Arbeitsgesellschaft. Doch der kulturelle Wandel ist schmerzhaft. Die klassische Arbeitsbiographie von 20 bis 65 kann nicht aufrechterhalten werden.
An ihre Stelle tritt ein Flickenteppich aus Beschäftigungen. Der Übergang vom Arbeitnehmer zum Arbeitslosen ist fließend, spielt aber keine große Rolle mehr. Vorausgesetzt, wir garantieren die soziale Reichtumsverteilung für jeden.
Bestandsaufnahme des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels
„Arbeits- und Lebensformen in der Zukunft“ heißt eine neue Studie, die das Liberale Institut Zürich soeben im Auftrag der Vontobel-Stiftung herausgebracht hat. Eine Bestandsaufnahme des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, die „anhand von Fallbeispielen und Interviews die vielfältigen Veränderungsprozesse aus unterschiedlichsten Perspektiven beschreibt“. Deren 194 Seiten sind unter www.libinst.ch bequem herunterzuladen.
„Die positiven Seiten des Wandels stehen im Zentrum, ohne dass dabei einem blinden Fortschrittsglauben und einem technologischen und politischen Machbarkeitswahn gehuldigt würde.“ Vor allem die sozialen Auswirkungen werden eingehend von allen Seiten untersucht.
Wie lebt es sich in einer Welt, die sich Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung auf die Fahnen geschrieben hat? Noch dazu in neuen Arbeitsmärkten, in denen sich immer mehr mündige und eigenständige Leistungsanbieter begegnen. Oder in Schulen und Universitäten, die „flexible, sensible und lernfähige Menschen ausbilden und nicht stellengerechte Arbeitnehmer als Zahnrädchen schleifen, die dann plötzlich nirgends mehr passen“.
Biographie als Patchwork
Im Zentrum der Betrachtungen steht der Lebensunternehmer, der seine Biographie als Patchwork denkt. Zu jeder Zeit, will sagen: in jedem Lebensabschnitt soll ein Entwicklungsschritt möglich werden, der zur persönlichen Reifung beiträgt. Nach dem Motto: „Diese Freiheit nehme ich mir.“ Und zwar auch jenseits des bezahlten Jobs. Dem zufolge unterscheidet man zwischen „Lernzeit, Arbeitszeit, Sozialzeit, Ichzeit und Freizeit“. Gesellschaft und Wirtschaft stellen dafür Möglichkeitsräume zur Verfügung. Ganzheitlich und jobübergreifend. Und im übrigen ohne die Gefahr eines materiellen Absturzes. Eine Aufgabe, die Politik und Wirtschaft in weiten Teilen noch immer nicht wahrhaben wollen.
Selbstverwirklichung versus Normalarbeitsverhältnis
Nehmen wir eine solche Patchwork-Biographie der Zukunft einmal genauer unter die Lupe: Ausbildung und Schule bis 22, erste Erwerbsarbeitsphase bis 27, dann ein Jahr Sabbatical, dann bis 33 zweite Erwerbsarbeitsphase und Übergang in eine sechs jährige Familienphase, darauf Einstieg in die erneute Erwerbsarbeit mit einer Zusatzausbildung, mit 48 dann ein Turnaround mit beruflicher Neuorientierung und bis 58 letzte Erwerbsarbeitsphase, schließlich ein weiteres Sabbathical und ein Hineingleiten in den Altersruhestand ab 59, in dem ganz Unruhige immer wieder Beschäftigungsetappen suchen.
Demgegenüber stehen 87.750 Arbeitsstunden von 20 bis 65 im Normalarbeitsverhältnis des industriellen Zeitalters. Kein Zweifel: Leben und arbeiten vermischen sich im Laufe einer Patchwork-Biographie. „Mit abwechselnden und überlappenden Phasen verschiedenster Aktivitäten.“
Nicht jede Beschäftigung findet nur mehr auf Seite der Erwerbsarbeit statt. „Der Anteil der Berufsarbeit an der wachen Lebenszeit der Arbeitnehmer ist in den letzten Jahrzehnten rasant gesunken. Er beträgt weniger als ein Drittel dessen, was zu Zeiten von Marx, Lassalle und Bismarck gearbeitet wurde.“ Gerade einmal 1.600 Arbeitsstunden verrichtet ein Arbeitnehmer in Mitteleuropa pro Jahr.
Zeit etwas für sich zu tun
Außerdem: Was früher ein Privileg für die Oberschicht war, ist jetzt für jedermann zu haben: „Muße, Erholung, Hobbys und Selbstverwirklichung.“ Endlich Zeit, etwas für sich zu tun. Lebenssinn und Lebensfülle sollen in der erwerbsarbeitsfreien Zeit ebenso garantiert werden. Freizeit und Muße wollen aber auch gelernt sein. Und selbst die Exklusivität eines einzigen Berufes geht langsam flöten.
„Mehrere verschiedene Berufe im Laufe eines Erwerbslebens auszuüben, das gehört bereits heute zur normalen Anforderung“, schreibt der frühere Universitätsrektor Bernd Rüthers. Die Studie hält hierzu eine Menge an Beispielen bereit. Das Motto: Der Lebensunternehmer führt sich selbst. Einige Beispiele: Ein Abiturient, der ein Lateinwörterbuch im Internet bereitstellt, die Leiterin einer Kulturgaststätte, ein pensionierter Jurist, der sein Wissen weiterhin anbietet, bis hin zum Betreiber einer Kaffeebar in den USA.
Fazit: Das Bild des Patchworks verbindet alle Beschäftigungen in- und außerhalb der Berufswelt und entlarvt traditionelle Arbeits- und Bildungsstrukturen als überholt.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe)