In der neuen Ausgabe von Paul Lendvais "Europäischer Rundschau", die im Juni
Rudolf Burgers heftig diskutierten Essay "Die Irrtümer der Gedenkpolitik" publiziert hat,
beschäftigt sich ein Philosophen-Kollege mit dem "Erinnern als Form des
Vergessens". Der STANDARD bringt wiederum vorab eine gekürzte Version.
In der 1966 erschienenen "Negativen Dialektik" hatte Theodor W. Adorno einen
Gedanken formuliert, der, obwohl nur noch selten zitiert, zum impliziten Bestandteil
jenes Europäischen Grundkonsenses und Wertekanons gehört, der sich als Antithese
zur Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Menschenvernichtung versteht:
"Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen
Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz
nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe."
Kein vernünftiger Mensch, der das eigene Lebensrecht auch allen anderen
zugestehen will, könnte diesem Satz nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts
widersprechen. Allerdings: Adorno hatte schon darauf hingewiesen, dass sich so wie
der Kantische auch dieser kategorische Imperativ gegen jede Begründung sträubt,
und hatte angedeutet, dass auch dieser Imperativ letztlich eine formale Bestimmung
bleibt, deren Ungenügen erst spürbar wird, wenn man sich ihm fügen will.
Burger missverstanden
Rudolf Burgers Essay Die Irrtümer der Gedenkpolitik wird nun unterstellt, diesen
Imperativ außer Kraft setzen zu wollen: Wer die Erinnerung sabotiert, so lautet die
Kritik, affirmiert offenbar implizit das Grauen, dem diese galt. Tatsächlich ging es
Burger in seinem zugespitzten und an manchen Stellen vielleicht missverständlich
formulierten Text wohl um etwas anderes: um die Frage, ob die gegenwärtig weltweit
praktizierte Erinnerungskultur und Gedenkpolitik tatsächlich jenes Mittel und Medium
ist, das es erlaubt, diesem Imperativ zu genügen.
Adorno hatte noch angedeutet, dass Auschwitz und der Völkermord Ausdruck einer
geschichtlichen Tendenz gewesen sei, die sich im Massenmord an den Armeniern
zum ersten Mal Bann gebrochen hatte und in deren Zusammenhang auch die
Erfindung und der Einsatz der Atombombe zu stellen sei; und Adorno wollte auch die
Möglichkeit bedacht wissen, dass sich der Hass, der sich in Auschwitz gegen die
Juden ausgetobt hatte, in der Zukunft auf andere Gruppen richten könnte - "etwa auf
die Alten, die ja im Dritten Reich gerade noch verschont wurden, oder die
Intellektuellen".
Was aber bedeutet das? War der Massenmord an den als Intellektuelle denunzierten
Brillenträgern in Kambodscha schon die Wiederholung von Auschwitz oder doch nur
ein weiterer Betriebsunfall des Kommunismus auf dem Weg zum Menschenglück?
Und ist die von den Nazis aufgegriffene und forcierte Praxis der Euthanasie für alte und
behinderte Menschen, deren Leben als nicht lebenswert erachtet wurde, wirklich kein
Thema für die laufenden Euthanasie-Debatten? Ist die neue Genetik wirklich so
unschuldig, und ist es tatsächlich nur ein "Fundamentalismus", der vermutet, dass
damit die Rahmenbedingungen für eine neue Eugenik - und sei es eine von unten -
geschaffen werden sollen?
Sind die sogar mit namentlichen Bezug auf Hitlers Eugenik vom Nobelpreisträger
James D. Watson vorgebrachten Versuche, wieder einmal Lebenswertes von nicht
Lebenswertem Leben zu trennen, nur die Entgleisung eines Einzelnen? Ist tatsächlich
nur der verabscheuungswürdige antisemitische Witz ein Zeichen für die Lebendigkeit
der Vergangenheit oder nicht doch auch ein Denken, das den Menschen zur
disponiblen Materie degradiert und die Menschenwürde unverblümt an die Interessen
der Industrie gekoppelt sehen möchte?
Punische Kriege
Wie vertrackt es sich mit der Vergangenheit der Vergangenheit verhält, lässt sich
allerdings auch an jenem Satz von Rudolf Burger ablesen, auf den zahlreiche Leser
mit Empörung reagierten: "Real ist die Nazizeit so versunken wie Karthago." Allein an
diesem Satz ließe sich exemplifizieren, wie Vergessen und Erinnern ineinander
verschränkt sind. Denn Karthago galt der linken Intelligenz nach dem Zweiten
Weltkrieg lange als Chiffre für das Schicksal Deutschlands, sollte dieses noch einen
dritten Krieg riskieren, galt als Menetekel an der Wand des damals so genannten
bundesdeutschen Revanchismus.
In einem offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller hatte im Jahre
1951 Bertolt Brecht vor der deutschen Wiederaufrüstung gewarnt und diesen Brief mit
jenen Sätzen geschlossen, die zu seinem beliebtesten Schulbuch-Text werden
sollten: "Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem
ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem
dritten."
Wie versunken ist Karthago? Wie versunken ist die Nazizeit? Fast mit denselben
Phrasen feierte die Filmkritik die Kriegsszenen in Steven Spielbergs Saving Private
Ryan und in Ridley Scotts Gladiator. Die Landung der Alliierten in Nordfrankreich im
Jahre 1944 und der Angriff der Römer auf die Markomannen im Jahre 180 ist uns,
durch die Brille Hollywoods betrachtet, tatsächlich gleich nah und gleich fern.
Die industrielle Leichenproduktion der Nazis - nur in dieser Terminologie hatte noch
Anders von Auschwitz sprechen wollen - wurde damit zur einzigartigen ästhetischen
Herausforderung. Es gibt offensichtlich eine unmittelbare Faszination des
Schrecklichsten, die nicht zuletzt zum Erfolg des "Holocaust" in der Kulturindustrie
beigetragen hat. Spielberg ist dabei mit Schindlers Liste das selten bemerkte
Kunststück gelungen, das größte Verbrechen der Geschichte mit der
Hollywood-Maxime des Happyends zu versöhnen.
Das Vokabular, mit dem die Rezeption dieses Filmes dann auch beschrieben wurde
und das von Erschütterung bis Betroffenheit reichte, täuschte darüber hinweg, dass
tatsächlich, wie selten sonst, damit jene "gemischte Empfindung" produziert wurde,
die schon den ästhetischen Diskurs der Aufklärung bestimmt hatte: ein "angenehmes
Grauen". Angesichts der Dimension und der Stellung im ästhetischen Diskurs der
Gegenwart könnte man mittlerweile angesichts von Auschwitz tatsächlich als von
einem Negativ-Erhabenen sprechen. Damit aber wird dieses zu einer ästhetischen
Sensation, ist, wie alles Erhabene, anfällig für den Kitsch und aus dem Feld der
politischen Aufklärung längst verschwunden.
Die Versuche, die Judenvernichtung der Deutschen aus dem historischen Kontinuum
herauszunehmen und zu einem negativen Absolutum zu erklären, konnten deshalb
auch dazu verführen, eine säkulare Religion, eine "Zivilreligion" zu begründen, die als
neues Mythologem auch all das produziert, was Erinnerung letztlich nicht schärft,
sondern verblassen lässt: Gedenk- und Pilgerstätten, Rituale und
Lippenbekenntnisse, Ästhetisierung, Pathetisierung und Hohepriester, und auch, zum
Gaudium der Medien, Heuchler, Ketzer, Häretiker und Leugner.
Negativ-Mythos
Die krude Vorstellung, auf solch einen Negativ-Mythos ließe sich so etwas wie eine
neue deutsche Identität fundieren, gibt wenigstens offen zu, zu welch einem Zweck
hier Erinnerung instrumentalisiert werden soll. Es verwundert so auch nicht, dass
unter solchen Bedingungen jede Korrektur, ja manchmal schon die Arbeit an der
Historie - wenn es um Zahlen und Details des Massenmords, um falsch zugeordnete
Bilddokumente oder eine neue Fragestellung geht - zu erregten Debatten führen
muss, da es in der Tat nicht mehr nur um Fragen der historischen Rekonstruktion des
Gewesenen, sondern immer auch um die damit verbundenen moralisch-politischen
Implikationen geht. Fraglich ist, ob dies zu mehr führen kann als zu einem Vorrat an
moralischen Gesten, die den Bezug zur Geschichte und zur Wirklichkeit verlieren und
zu Selbstläufern des intellektuellen und medialen Diskurses werden.
Unter den Bedingungen der Kulturindustrie aber gerät die politisch und pädagogisch
eingeforderte Erinnerung an das Grauen mitunter selbst zum puren Event. Das
erlebnispädagogische Projekt, das bei jungen Menschen die Erinnerung wach halten
will und als Höhepunkt eine Klassenfahrt zu einer Stätte des Grauens bereithält, ist
nur einen Schritt von jenem Zynismus entfernt, der die mit virtueller Gewalt verwöhnten
Kids endlich einmal mit einer Ahnung davon versorgen will, was die wirkliche
Wirklichkeit so zu bieten hatte. Der Affekt, mit dem sich Rudolf Burger gegen die
kulturindustrielle Sekundärausbeutung der Opfer wehrt, erinnert so weniger an den
Stammtisch, der einen Schlussstrich ziehen möchte, als an den Text Reklamefahrten
zur Hölle von Karl Kraus aus dem Jahre 1921. Kraus hatte damit in der Fackel mit
unnachahmlicher Schärfe die von einer Zeitung angepriesenen Erinnerungsfahrten zu
den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gegeißelt, bei denen die Verbindung von
kulinarischen Genüssen mit dem Anblick des Grauens versprochen worden war. Nach
Mauthausen werden schon lange Gedenkausflüge mit Wirtshausbesuch und
gemütlicher Rundwanderung angeboten.
Den Schrecken bannen
Von Sören Kierkegaard stammt der Gedanke, dass die Ästhetisierung der Erinnerung
eine Form des Vergessens sei. In Entweder-Oder schrieb er: "Je poetischer man sich
erinnert, umso leichter vergisst man; denn poetisch sich erinnern ist eigentlich nur ein
andrer Ausdruck für vergessen. Wenn ich poetisch mich erinnere, ist mit dem Erlebten
allbereits eine Veränderung vor sich gegangen, dadurch es alles Peinhafte verloren
hat." Kierkegaard wusste, dass eine ästhetische Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit deren Neutralisierung bedeutet: Der Schmerz, die Erschütterung, die
lebensweltliche Getroffenheit sind damit überwunden - und dies ist der Sinn der
Ästhetisierung.
Es ist eine Form des Vergessens durch Erinnerung. Die in den letzten Jahren
gebauten Mahnmäler, die zahlreichen Ausstellungen, Romane, Filme, Theaterstücke,
Gedenkfeiern und Opern, die an das Menschheitsverbrechen der Nazis erinnern
wollen, stellen eine Möglichkeit dar, den Schrecken aus dem Bewusstsein zu bannen,
sich mit ihm zu versöhnen, ihn sogar, wie ambivalent auch immer, zu genießen.
Adornos Reflexe gegen Gedichte nach Auschwitz, Anders' Verdikt über Paul Celan
hatten etwas Wahres an sich.
Das Kunstwerk im Allgemeinen und das moralische Kunstwerk im Besonderen
erfordern keine Besinnung und Reflexion mehr, sondern höchstens ein Ritual. Vor
allem an den öffentlichen Denkmälern, die erinnern sollen, wird bald jede Erinnerung
getilgt sein. Wer nicht alles ohnehin schon weiß, wird darin nicht mehr sehen können
als Momente der Stadtarchitekturen und, wenn alles gut geht, Attraktionen für
Kulturtouristen. Man muss dagegen nicht opponieren, weil man dahinter das Geschäft
vermutet; aber man sollte sehen, dass weder die Kunst und schon gar nicht die
Traumfabriken von Hollywood jene Instanzen sind, denen man zutrauen könnte, dem
Bedürfnis nach Vergessen zu widerstehen.
Vergessen als Kunst
Für das Vergessen ist also gesorgt. Und doch kann man sich damit nicht beruhigen.
Kierkegaard hatte auch geschrieben: "Vergessen - das möchten alle Menschen . . .
Aber Vergessen ist eine Kunst, die im Voraus eingeübt werden sollte." Wenn nichts
bleibt als das Vergessen, kommt alles darauf an, wie man vergisst.
In seinem nachdenklichen Buch Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens hat der
Literaturwissenschafter Harald Weinrich, der sich selbst nachdrücklich zum
Vergessensverbot angesichts von Auschwitz bekennt, geschrieben: "Aber ist ein
solches Verbot, wenn es für alle Zeiten gelten soll und der Mensch dennoch ein
animal obliviscens (ein vergessendes Tier, Anm.) bleibt, wirklich durchzuhalten, ohne
dass sich auf der Täter- wie auf der Opferseite das Gedächtnis verhärtet und neue
Feindschaft erzeugt wird? Gilt hier für den einzelnen nicht - oder vielleicht doch - die
weltkluge Maxime des spanischen Moralisten Baltasar Gracián, die schlicht lautet:
"Vergessen können!"? Doch setzt Gracián sogleich hinzu: "Es ist mehr ein Glück als
eine Kunst." Angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist man versucht zu
sagen: Vergessen zu können wäre weniger ein Glück als eine Gnade. Aber eine
Gnade ist nichts, was man sich selbst gewähren kann.
Die "Europäische Rundschau" mit weiteren Beiträgen zu Burgers Essay erscheint
Ende Juli.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. 7. 2001)
Ein
weiterer Beitrag zur Erinnerungsdebatte stammt von Franz Schuh:
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>Eine Reiterballade
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SONDERSEITE zur Burger-Debatte
derStandard.at dokumentiert in
diesem Sonderforum die Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Debatte um
Rudolf Burgers Essay über die "Irrtümer der Gedenkpolitik".